Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
würde beim Betrachter höchstens Mitleid wecken. Irgendwelche erhabenen Empfindungen für den geistigen Ort im Menschen, an dem er sich – unabhängig vom Ausmaß seines Unglücks – über seine Umstände erheben konnte, hatte Krøyer nicht. Genau das sollte jedoch die Aufgabe der Malerei sein: zeigen, dass der Mensch edel ist.
»Ich male nichts Hässliches«, hatte er damals als unerfahrener Junge gesagt. Und er hatte recht gehabt. Als er vor Krøyers Gemälde stand, füsterte er die Worte wie eine Beschwörung, die das Böse auf Abstand halten sollte.
»Ich male nichts Hässliches.«
Es blieb sein künstlerisches Credo. Er hatte es sich nicht ausgesucht. Es hatte sich ihn ausgesucht und war zu seinem Ruf geworden. Mit seiner Malerei wollte er dem Betrachter den Weg ins Innere des Menschen zeigen, zu einem unbefeckten Kern.
Auch Krøyer hatte der Hässlichkeit wieder abgeschworen. Jetzt malte er nur hübsche Menschen und freundliche Situationen. Doch er malte noch immer nur den äußeren Menschen, das oberfächliche Glück, eine nur kurz anhaltende, von der Sonne beschienene Heiterkeit, so füchtig wie der Sonnenstrahl, der für einen Augenblick durch die Wolkendecke bricht.
Mit Ancher verhielt es sich anders. Seine Fischer waren nicht schön im üblichen Sinn. Sie waren runzlig und wettergegerbt, gezeichnet vom Leben. Doch ihre Seele war schön, und Ancher hatte sie in diesen harten und häufig verschlossenen Gesichtern gefunden.
Die Begegnung mit Michael Anchers Bildern hatte Carl die Augen geöffnet. Hier gab es einen Maler, der an Dänemarks entlegenster Küste in die Herzen eines fernen Volkes von Fischern blickte. Carl begriff, dass er schon lange etwas mit sich herumtrug, das Ancher in Skagen gefunden hatte. War sein Bild Eine Marstaljagt havariert bei schwerem Wetter, das er bereits 1870 gemalt hatte, in dieser Hinsicht nicht eine Pionierarbeit, die der Entwicklung vorgegriffen hatte? Der gebrochene Mast, die Reste der vom Sturm in Fetzen gerissenen Segel, ein Seemann, der als dunkle Silhouette vor dem Sturmhimmel die Axt hebt, um das Rigg zu kappen. Hier war der elementare Lebenskampf des Menschen ebenso hart wie bei den Eskimos, aber nachvollziehbarer. Im Grunde war er bereits damals aufgebrochen, um sein Skagen zu finden.
Hatte er sich unterwegs auf Umwege eingelassen? Er hatte sich mit seiner Familie in Kopenhagen niedergelassen und sich einen Namen als Marinemaler gemacht. Er stellte regelmäßig aus und verkaufte so gut, dass er ein Leben im Wohlstand führen konnte. War er bequem geworden?
Carl reiste nach Ærøskøbing, das er so viele Jahre gemieden hatte. Es war die letzte Station.
Nun musste die Wahl getroffen werden. Carl Rasmussen musste seinen Ort finden.
I n der Vestergade stieß er mit einem Mann zusammen, der, in einen weiten Mantel gehüllt, plötzlich auf den Bürgersteig trat. Der Mann kam aus einem der kleinsten Häuser Ærøskøbings, einem Fachwerkhaus, das eingeklemmt zwischen zwei weit größeren Gebäuden stand und lediglich über ein Guckloch als Fenster verfügte. Carl kämpfte sich, hinter einem Regenschirm verborgen, die menschenleere Straße hinauf. Ein paar Minuten zuvor war die tief hängende Schicht Stratuswolken aufgerissen, von der die Insel im Herbst stets eingehüllt wurde. Es regnete so heftig, dass der Rinnstein in der Mitte der Straße bereits überfoss. Alles Licht schien beinahe verschwunden, als ob die Dunkelheit sich weit früher als gewöhnlich eingestellt hätte.
Carl klappte den Schirm zusammen, um sich für seine Unaufmerksamkeit zu entschuldigen. Der andere winkte abwehrend mit der Hand und schien rasch weiterkommen zu wollen. Doch unvermittelt blieb er stehen und blickte Carl prüfend an, während er unkontrolliert mit einem Auge zwinkerte. Er holte tief Luft, wie ein Schauspieler, der sich sammelt, bevor er die Bühne betritt, um seinen Monolog zu sprechen.
»Ah ja, ist das nicht Carl Rasmussen?«, sagte er mit einer energischen Stimme. »Dann ist es also gelungen. Meinen Glückwunsch!«
Er griff nach Carls Hand, und einen Augenblick sah es so aus, als wollte er sie kräftig schütteln. Dann ließ er wieder los. Etwas Kraftloses lag in seinem Händedruck.
»Na ja, ich bin vermutlich nicht der Erste, der Ihnen gratuliert. Ja, wir müssen uns jetzt wohl besser siezen. Sie sind im Rang gestiegen, ein anerkannter Künstler! Ich würde es nicht wagen, du zu sagen. Das habe ich mal gemacht. Nur waren Sie damals bloß ein Junge.
Weitere Kostenlose Bücher