Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Zumindest kann ich mich aber rühmen, dass ich der Erste gewesen bin, der Ihr Talent erkannt hat. Ich bin ein Mann mit vielen Fehlern, das wissen die Götter. Aber in einem Punkt bestehe ich darauf, dass man mich respektiert. Ich war es, der Carl Rasmussen entdeckt hat.«
Carl war das übertriebene Lob unangenehm. Als Maler hatte er sich seiner Ansicht nach noch immer nicht wirklich etabliert. Der Regen fiel mit unverminderter Intensität. Er nickte kurz zum Zeichen, dass er weitermüsse, und spannte den Schirm wieder auf.
Der andere griff ihm vertraulich unter den Arm.
»Artus hat das Schwert aus dem Stein gezogen«, sagte er. »Kommen Sie, ich spendier uns ein Glas im Harmonien.«
Carl wollte sich gerade höfich entschuldigen, doch das rechte Auge des Mannes hörte nicht auf zu zwinkern. Da begriff er endlich, wem er gegenüberstand. Hinrichsen. Der Widerwille vor dem Mann hatte verhindert, dass er ihn sofort wiedererkannte. Carl hatte nicht die geringste Lust, mit der Person zu verkehren, die sein Vertrauen einst so grausam enttäuscht hatte. Aber er musste zugeben, dass eine Portion Wahrheit in der Version seines ehemaligen Wohltäters steckte. Hinrichsen war tatsächlich der Erste gewesen, der ihn ermutigt hatte.
Hinrichsen musste sein Zögern bemerkt haben, denn er zog ihn bereits mit sich. Im Hotel Harmonien rief er mit weltmännischer Miene nach dem Kellner und bestellte eine Flasche Burgunder.
Carl streckte abwehrend die Hände aus. Es war mitten am Tag und er wollte auf keinen Fall eine ganze Flasche Wein leeren. Aber Hinrichsen ließ sich nicht aufhalten.
»Unfug«, sagte er, »Sie müssen gefeiert werden. Selbstverständlich geht das auf meine Rechnung.«
Woher kam das Geld? Vielleicht lebte Hinrichsen noch immer vom Inhalt des Kopfkissens, möglicherweise hatte er ja weit mehr vor seinen Gläubigern verbergen können. Carl fühlte sich nicht wohl in dieser Gesellschaft, nun blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als es durchzustehen.
Hinrichsens ehemals so kraftvolles Gesicht war bleich und eingefallen. Der Haaransatz hatte sich noch höher geschoben. Zurückgeblieben waren lediglich ein paar graue Zotteln, die nach dem Regen in dünnen Strähnen über der Stirn hingen. Der schmutzige Kragen war zu groß für den dünnen Hals, und Carl bemerkte nun auch den Gehrock, abgewetzt glänzend und mit ausgefransten Ärmeln. Der dreijährige Gefängnisaufenthalt hatte Spuren hinterlassen. Hinrichsen machte den Eindruck eines Mannes, der am Boden lag und nicht wieder aufstehen würde.
Als er den Wein probierte, schnalzte Hinrichsen mit den Lippen und schloss die Augen, um den Genuss zu unterstreichen. Das rechte Augenlid klappte jedoch unvermittelt wieder auf, als hätte das Auge darunter seinen eigenen Willen und wollte Carl ausspionieren.
»Sie haben doch nicht etwa daran gedacht, sich hier in der Stadt niederzulassen?«
»Ich bin nur gekommen, um meine Eltern zu besuchen«, erwiderte Carl ausweichend.
Er hatte nicht vor, Hinrichsen in seine Zukunftspläne einzuweihen.
»Ich möchte Ihnen aufs Schärfste …«, Hinrichsen hob theatralisch seinen Zeigefinger in einer warnenden Geste, »ich möchte Ihnen auf das Schärfste abraten, Ærøskøbing zu wählen.«
»Aber wieso?«
Carl wurde plötzlich neugierig.
»Sehen Sie sich hier doch um!«
Leben kehrte in Hinrichsens eingefallenes Gesicht zurück. Seine Stimme verriet, dass ihn die Verbitterung trieb.
»Gehen Sie hinunter zum Hafen. Es gibt immer weniger Schiffe, und diejenigen, die noch da sind, sind in immer weniger Händen. Aber das sind kraftlose Hände. Schauen Sie sich Schiffsreeder Brandt an, ja, Sie kennen ihn, der vornehmste Mann der Stadt, nicht wahr! Noch immer sitzt er in seinem großen Haus in der Vestergade, und ich, der ihn bei mehr als einer Gelegenheit gerettet hat, ich wohne gegenüber im kleinsten Haus der Stadt. Ich trage tagein, tagaus dieselbe Kleidung. Ich habe nichts anderes. Ich hätte ebenso gut meine Gefängniskluft anbehalten können. So glotzen die Leute mich an. Brandt wurde nicht angeklagt. Er war zu tüchtig, aber die ganze Affäre hat ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt. Er ergreift keinerlei Initiative. Er versucht nichts Neues. Brandt und mit ihm diese ganze Stadt sind in einen Tiefschlaf verfallen und glauben, das wäre eine Lösung, ja, die Rettung. Dornröschen ist Ehrenbürgerin von Ærøskøbing, und am Eingang ihres Schlosses steht ›Kein Zugang für Prinzen‹. Tja, erhalten ist die Stadt ja. Man
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