Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
musste sie eine nach der anderen ausprobieren. Er hatte eine Italienreise unternommen. Eigentlich nur, weil es damals so üblich war. Mit Grönland hatte er das Unbekannte gewagt. Nun entschied er sich für eine verbindliche Linie. Er heiratete Anna Egidia und nahm die Mutter und die bucklige Dorothea mit in Kauf, wie das Pfichtgefühl es ihm vorschrieb. Es kamen Kinder. Er stellte regelmäßig aus und sein Ruf als Marinemaler wuchs. Er selbst hatte keine Bezeichnung für sich.
Dänemarks Landkarte wurde künstlerisch entdeckt. Krøyer malte in Hornbæk, Tuxen in Nymindegab, Philipsen auf Saltholm und der hitzige Drachmann war überall und setzte sich zudem in der Literatur durch. Drachmann brach mit Eckersberg und schrieb über eine neue Bewegung in der Marinemalerei. Carl wurde den Neuen zugerechnet und für seinen Fleiß gelobt.
Als Carl die Akademie verließ, hatte er Legate für Studienreisen in Dänemark erhalten. Er reiste nach Bornholm und malte, er zeichnete die Boote auf dem Fjord von Kolding, er hielt sich am Isefjord und in Ribe auf, er reiste bis nach Skagen, und sein erstes Bild von dort wurde in Charlottenborg ausgestellt, Seestück, Motiv nordwestlich vor Skagen.
Jede Landschaft rief nach ihrem Maler, jeder Waldrand, jeder lehmige Steilhang, jeder Strand, jede Landspitze, jedes Bauernhaus, jede Brigg, ja, in Dänemark gab es eine Welt von Motiven. Sein Beitrag bestand aus Klippen auf Bornholm, einer Jolle auf dem Svendborgsund, einer Abendstimmung bei Ribe und der Fregatte Jylland. Dann kam Grönland.
Aber seinen Ort hatte er noch immer nicht gefunden.
Es traf ihn sehr, als er hörte, dass Michael Ancher sich in Skagen niedergelassen hatte. Carl war dem stämmigen, ernsten Maler mit dem intensiven Blick und der breiten Stirn einmal begegnet. Er hatte ein paar Worte mit ihm gewechselt und sofort eine geistige Verwandtschaft gespürt, zu weiteren Kontakten war es allerdings nicht gekommen. Ancher erinnerte ihn an einen vergessenen Pakt: In diesem verzweifelten Sommer, in dem er dachte, alles verloren zu haben, hatte er auf der Anne Cathrine gesessen, und dort, auf dem Schiffdeck, hatte er seinen Pakt besiegelt. Aber was bedeutete dieser Pakt genau? Diese Frage hatte er sich nie beantwortet. Gab es denn überhaupt einen Ort? Das Meer, Ærø, ein Schiffsdeck oder die Seeleute?
Michael Ancher lieferte ihm die Antwort, die er selbst nicht finden konnte. Jetzt sah er es ein. Bei all seinen bisherigen Bildern hatte es sich lediglich um Vorbereitungen gehandelt. Seine Lehrzeit war noch nicht beendet.
Michael Ancher lebte zusammen mit den Fischern und entdeckte das Drama des Kampfes zwischen Mensch und Natur. Das Leben dort oben war so nackt: Rettungsboote, die sich ihren Weg durch die Brandung kämpften, Ertrunkene, die in triefend nassem Ölzeug an Land getragen wurden, Köpfe, die sich voller Trauer neigten, gefaltete Hände, zerfurchte Gesichter, die auf eine geradezu übermenschliche Weise eine stoische Ruhe ausstrahlten. Mit Gottergebenheit hatte der Mensch dort die wilde Natur besiegt. Aber es war ein innerer Sieg.
Mit der Zeit hatte sich eine ganze Schule gebildet. Krøyer brach aus Hornbæk auf, Tuxen aus Nymindegab, Drachmann, der sich in der Zwischenzeit ganz der Poesie verschrieben hatte, tauchte selbstverständlich auch auf. Neue Maler kamen hinzu, Johansen, Locher. Vom Sommer und dem Licht in Skagen angezogen. Es herrschte eine Heiterkeit und Lebensfreude auf ihren Bildern, die Carl schätzte, aber nicht teilen konnte. Denn auf einmal ging es nicht mehr um die Fischer sondern um die Künstler selbst.
Es war Anchers Ernsthaftigkeit, die das Echo in ihm auslöste.
Noch immer erinnerte sich Carl an den Ekel, den Krøyer in ihm hervorgerufen hatte, als er um 1880 mit dem Bild der Werkstatt eines italienischen Hutmachers nach Hause kam: das Zwielicht, der abgemagerte, von Ruß verdreckte Körper und vor allem der Schweißtropfen, der sich ganz vorn an der Nasenspitze des Hutmachers gesammelt hatte. Das hatte mit gutem Geschmack nichts zu tun, Krøyer belästigte den Betrachter mit seiner Darstellung eines armen Menschen. Doch es ging weniger darum, dass er Carl Rasmussens Schamgefühl verletzt hatte. Nein, weitaus schlimmer: Er hatte das Schamgefühl des italienischen Hutmachers verletzt.
Bei dieser Art von brutalem Realismus blieb nichts als das Äußerliche des Menschen, ein verbrauchter Körper in seiner ganzen tierischen Erniedrigung. Es gab keinen Zugang zu diesem Gemälde. Es
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