Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
grellen, kräftigen Reinheit der Farben.
Welche Farbe hatte der Schatten einer Zitrone? Er hatte nie eine Zitrone gemalt, wusste es aber dennoch. Violett. Ein Violett, das wie ein Messer ins Auge stach.
So hatte er Schatten nicht zu malen gelernt, weder bei Frisch noch auf der Akademie. Diese Farben hatten auf einer Palette zu sein: Neapelgelb, Ocker, gebranntes Siena, Zinnoberrot, Pariserblau, Weiß und Schwarz zum Abtönen. So baute man ein Gemälde auf. Aus Mischtönen, Lichttönen, Zwischentönen, Schattentönen. Man sollte auf der Leinwand nicht die Natur finden. Sondern die Kunst. Und Kunst bestand aus Abtönungen. Die hellen Partien fett aufgetragen, die Schatten leicht und transparent mit verdünnter Lasurfarbe. Kein Gelb, kein Violett, kein Rot, kein Grün, sondern Abtönungen.
Carl hatte ein Glaubensbekenntnis in der Kirche. Und er hatte ein weiteres für sein übriges Leben. Die Abtönungen.
Violett war wie ein Messer im Auge.
Wenn man überfallen wurde, musste man sich wehren.
Man durfte nicht stumm bleiben, wenn der eigene Glaube und die Lebensgrundlage in Frage gestellt wurden.
Doch genau das hatte er getan. Er war stumm geblieben. Und der Hahn hatte gekräht.
So wie er nun an jedem Morgen krähte, wenn der segnende Schlaf ihn aus seinem Griff entließ und er die Augen aufschlug.
Carl war diesem französischen Maler vor sieben, acht Jahren in Kopenhagen begegnet.
Das Thermometer zeigte zehn Grad unter null. Am Abend zuvor hatte es angefangen zu schneien, und noch immer fielen Schneefocken, als er Viggo Johansen eine Visite abstattete. Marie, die Frau des Malers, empfing ihn an der Tür und erklärte ihm leise, es wäre bereits ein Gast im Haus, der unangemeldet erschienen sei. Im Übrigen ein nicht sonderlich willkommener Gast.
»Er ist ein armer Teufel«, erklärte Marie Johansen füsternd. »Meinem Mann tut er beinahe leid.«
Der Franzose kam gerade mit Johansen aus dem Atelier, als Carl ins Wohnzimmer gebeten wurde. Carl verstand sofort, was Marie ihm hatte sagen wollen. Der Mann hatte ein typisch gallisches Aussehen, mit einem schmalen Gesicht und einer hervorstechenden Nase. Die Augen lagen tief, und seine hohlen Wangen wurden von einem hängenden Schnauzbart betont, den mehrere Tage alte Bartstoppeln umgaben. Insgesamt machte er einen ungepfegten und heruntergekommenen Eindruck, und sein Auftreten ließ ebenfalls eher an einen Repräsentanten der unteren Klasse denken.
Der Franzose war mit Johansen in eine Diskussion über dessen Bild Fröhliche Weihnachten verwickelt und ignorierte Carls Anwesenheit vollkommen, obwohl Marie mehrfach versuchte, sie einander vorzustellen. Er hatte sich hingesetzt und zeichnete mit einem blauen Pastellstift Skizzen auf ein Blatt Papier, während er gleichzeitig Johansens Bild kritisierte.
Es war nicht leicht zu verstehen, was er wollte, abgesehen davon, dass seiner Ansicht nach alles sehr viel einfacher sein musste. Er wiederholte das Wort mehrfach. »Einfachheit, Einfachheit.« Er sprach nur gebrochen Dänisch und wedelte dabei mit dem Blatt Papier.
Johansen hörte wohlwollend zu, doch sein entgegenkommendes Lächeln konnte das Nachsichtige in seinem Blick nicht verbergen.
Der Franzose war mit einer Dänin verheiratet und hatte fünf Kinder, die zusammen mit der Mutter bei den Schwiegereltern in Frederiksberg untergebracht waren. Sie mussten allein zurechtkommen. Er war nur auf eine Stippvisite nach Kopenhagen gekommen und wohnte eigentlich in Paris.
Carl bemerkte graue Haare in der ungekämmten schwarzen Mähne.
Offenbar hatte der Franzose eine Vergangenheit als erfolgreicher Börsenmakler und war erst spät zur Malerei gekommen. Jetzt war er bankrott und hatte seine Familie mit in den Abgrund gerissen. Er sprach ganz offen über seine Situation und schien vollkommen desinteressiert, ob man ihn bedauerte oder an seiner Geschichte Anstoß nahm. Hin und wieder schaute er verstohlen hinüber zu Marie, als erwartete er eine Reaktion von ihr; aber es war unmöglich, aus dem erloschenen Blick des Franzosen etwas herauszulesen.
Schließlich bemerkte er Carl. Er reichte ihm die Hand, ohne sich aus dem Stuhl zu erheben.
»Ich bin nur ein ungehobelter Matrose, der ziemlich gut kleine Schiffe malen kann, mit vollen Segeln und allem, was dazugehört.«
Carl vermutete einen Moment, dass der Fremde seine Seestücke kannte und ihn verspotten wollte. Aber nichts in seinem Gesicht deutete auf üble Absichten hin, sodass Carl sich entschied, ihm in
Weitere Kostenlose Bücher