Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Stattdessen wies er auf eine Staffelei, an der ein unvollendetes Bild hing.
    »Ja«, sagte er nur.
    Carl trat näher. Offenbar handelte es sich um ein Selbstporträt. Das Gesicht sprang ihn von der Leinwand geradezu gewalttätig an. Als ob der Mann den Betrachter angreifen und ihm die Kehle aufschlitzen wollte. Grob aufgetragene Striche zeigten die Konturen eines Gesichts, dessen Flächen in einer großen Disharmonie unvermischter Farben zusammenstießen. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Maler existierte wohl, aber darum war es ihm offensichtlich nicht in erster Linie gegangen. Dieses Gesicht entsprach seinen bizarren Äußerungen, noch keiner richtigen Idee, eher einem schrillen Aufschrei.
    Carl trat zurück. Selbst hier, in dem halbdunklen Dachzimmer, sah er das Licht, das aus den kräftigen Farben leuchtete. Die Schatten des Gesichts waren kobaltblau. Hier gab es keine Tönungen, keine Nuancen. Alles lag im Krieg, miteinander und mit dem unvorbereiteten Betrachter.
    Carl kniff die Augen zusammen, als würde ihn das kräftige Licht der Mittagssonne plötzlich blenden. Viele Jahre hatte er darauf gewartet. Aber er hatte ihn nie so stark, so rein, so hasserfüllt erwartet – diesen Bruch, nicht nur mit allem, was er als Maler gelernt hatte, sondern auch mit allem, was er an der Kunst schätzte.
    Er musste an den Rinnstein vor Jørgensens Färberei in Ærøskøbing denken. Damals war es ihm vorgekommen, als hätte das alltägliche Leben eine Bresche geschlagen, aus der die Farben ungehindert hervorquollen. Jetzt verstand er, dass der Franzose in dieser Bresche lebte und malte. Er hatte den ungehindert strömenden Lauf der Farben zu seiner Lebensform erkoren.
    Das hatte nichts mit Malerei zu tun. Es war ein Überfall. Ein Messer, das ihm durchs Auge schnitt, den Augapfel durchbohrt und nässend hinterließ.
    Und durch das Auge traf das Messer seinen Lebensnerv.
    Hinter ihm fing der Maler an zu reden.
    »Ich will alles«, sagte er mit einer heiseren, raspelnden Stimme, die vor Leidenschaft bebte. »Ich bekomme es nicht, aber ich werde es mir erobern. Lasst mich zu Atem kommen und mit etwas Neuem beginnen, und ich werde rufen: Schenkt ein, schenkt ein, noch einmal!«
    Carl erwiderte kein Wort. Er hatte nur einen einzigen Gedanken. Er musste hier raus, fort aus diesem unheimlichen Dachzimmer, weg von diesem Verrückten.
    »Die Tugend, das Gute, das Böse, das sind doch nur Worte«, fuhr der Maler fort, noch immer mit dieser Stimme, deren Leidenschaft beschwörend klang. »Sein Leben in die Hände des Schöpfers zu legen, heißt, sich selbst auszulöschen und zu sterben. Das ist gefährlich, das ist unwürdig! Das Leben eines Menschen ist kurz, aber es bleibt dennoch die Zeit, Großes zu tun.«
    Carl lief aus der Tür. Er rannte durch den dunklen Korridor, die Treppen hinunter. Hinter sich hörte er den Maler brüllen.
    »Die Erde dreht sich ewig. Alle Menschen scheißen! Es spielt keine Rolle!«
    Carl trieb die Furcht. Aber auch die Scham. Wieso hatte er sich nicht verteidigt, seine Malerei, seine Familie, seinen Glauben, sein Leben? Wieso hatte er mit hängendem Kopf zugehört, gefangen in seiner eigenen geheuchelten Höfichkeit? Sicher, der Maler hatte ja recht. Anzug und Zylinder, das war die Uniform normaler, wohlerzogener Menschen, das wahre Karnevalskostüm. Aber wieso hatte er sich nicht einfach verabschiedet? Ein jämmerlicher Bankrotteur, ein Schuft von einem Familienvater, ein Maul voller Anzüglichkeiten, die nur das Fiasko seines eigenen Lebens übertünchen sollten, ein Dilettant als Maler, der als Entschuldigung für seine eigene Talentlosigkeit auf verrückte Ideen schwor – weshalb sollte er vor ihm Angst haben?
    Aber Carl füchtete nicht vor dem Franzosen und seinen Bildern.
    Er ertrug sein eigenes Schweigen nicht.
     
    Er lag in seiner Koje, auf der Seite und mit angezogenen Beinen. Schützend umarmte er sich mit den Fellärmeln.
    Er fühlte sich eingesperrt in dieser aufgestauten Schwermut, die er in den ersten Wochen seiner Reise noch hatte zurückhalten können. Nun war er wieder aufgebrochen. Alles, wofür er hart gearbeitet hatte, verblasste allmählich. Zurück blieb nur die Routine. Grundieren, spachteln, decken, malen, lasieren. So war das Rezept. Er hatte sein Talent, sein Studium, sein Geschick. Er konnte viele große Bilder in kurzer Zeit produzieren. Sie unterschieden sich nicht sonderlich voneinander, aber gerade das sicherte den Erfolg. Dummheiten beging er selten, weil er nie höher

Weitere Kostenlose Bücher