Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Fräulein Camradt gern gemalt.
Aber er musste sich mit ihren Händen begnügen.
»Ich komme nicht mehr«, sagte Reimer zwei Tage nach Fräulein Camradts zweitem Besuch.
»Meine Hände müssen mit aufs Bild. Entweder erscheine ich als Ganzes oder gar nicht.«
Johannes Hay erklärte dasselbe.
»Ich will nich’ dasitzen und die Hände eines anderen falten. Das kann nich’ recht sein.«
Sie hatten miteinander gesprochen. Die Geschichte mit den Händen machte die Runde in der Stadt.
Schlimm war, dass eine Ærøskøbingerin für ein Altarbild Modell saß, das in der Kirche von Marstal hängen sollte. Noch schlimmer allerdings war, dass es sich um die Tochter des Apothekers handelte. Theodor Camradt galt als Feind der Stadt. Seit Jahren hatten die Marstaller eine Genehmigung für eine eigene Apotheke beantragt, und jedes Mal hatte Camradt sich mit dem Gesundheitskollegium verbündet und dafür gesorgt, dass der Antrag abschlägig beschieden wurde. In Marstal wohnten dreimal so viele Menschen wie in Ærøskøbing. Es waren sechsmal so viele Schiffe registriert, und alle benötigten einen gewissen Vorrat an Medizin, falls die Besatzung verunglückte oder krank wurde. Camradt würde Pleite gehen, wenn er all diese Kunden verlor. Daher mussten die Marstaller jedes Mal, wenn sie die Gicht plagte, sie an Verstopfung litten oder Kopfschmerzen hatten, die knapp zwei Meilen bis Ærøskøbing gehen, reiten oder segeln. Und daran hatte Theodor Camradt Schuld. An ihn würden sie denken, wenn sie vor dem Altarbild in der Marstaller Kirche säßen und ihr Blick auf Christus’ Hände fiel. Statt sich zu öffnen und die Erlösung anzunehmen, würden sich ihre Herzen mit Bitterkeit füllen.
Jesus hielt seine linke Hand ausgestreckt in einer waagerechten Position, als wollte er das aufgewühlte Meer besänftigen. Carl malte die Hand stark und maskulin. Es war die Hand des Schreiners in einer kräftigeren Version. Er lud Reimer zu Verhandlungen in sein Atelier.
»Sieh hin«, sagte er, »das ist deine Hand.«
»Das ist nur die Linke«, erwiderte Reimer. »Das ist nicht genug. Ich will auch die Rechte. Ich will, was mir gehört.«
Anna Egidia gab dem Schreiner recht, möglicherweise allerdings aus anderen Gründen.
»Ich bin der Künstler«, sagte Carl, »ich habe das Recht zu tun, was ich will.«
»Wir wollen auch künftig hier wohnen«, gab Anna Egidia zu bedenken. »Es nützt nichts, wenn wir die ganze Stadt gegen uns haben.«
Er trat einen Bußgang zu Fräulein Camradt an.
»Sie werden nicht mehr Modell sitzen«, erklärte er. »Es tut mir leid.«
Sie sah zu Boden, und er wusste nicht, ob es aus Erleichterung oder Bedauern geschah.
»Warum?«, fragte sie.
»Die Apostel haben sich aufgelehnt. Sie fürchten, dass ich ihnen allen ihre Hände nehme.«
Die Modelle kehrten zurück. Sie nahmen ihre Positionen wieder ein, Reimer mit erhobener Hand, Hay mit gefalteten Händen auf Knien, Pedersen mit dem Gesicht im Schatten. Ihr Selbstbewusstsein war größer denn je. Sie spürten, dass sie das Besitzrecht an der Tafel erworben hatten. Und wirklich unrecht hatten sie nicht. Das Bild sollte ja trotz allem über dem Altar ihrer Kirche hängen.
Carl malte an der fatalen rechten Hand. Er hatte sich etwas in den Kopf gesetzt. Er tat so, als würde er mit einem Auge Maß an Reimers Hand nehmen. Der Wirt krümmte nun nicht mehr den Finger am Abzug. Ganz von allein nahm er die korrekte Position ein. Er brachte auch keine Karten oder störenden Musikinstrumente mehr mit. Er war zum idealen Modell geworden.
Doch Carl malte nicht seine Hand. Es war die Hand Fräulein Camradts, diese weiche, einladende Rundung der Ballen in der Handfäche, diese schlanken Finger, diese kleinen blassrosafarbenen Perlmuttnägel. Er konnte sie nicht vergessen.
Er hatte Fräulein Camradts Seele in ihrer Hand gefunden, und er gab sie weiter an Jesus. Genau hier ließen sich die Erlösung und die Hoffnung auf der Altartafel von Marstals Kirche finden.
Reimer trat an die Leinwand und musterte das Resultat. Er kratzte sich an der Wange. Er war offensichtlich unsicher. Aber er sagte nichts.
Carl verlor den Kampf um Jesus Gesicht. Er konnte Reimers Seele nicht malen, und so malte er stattdessen Thorvaldsens Christus, wie er ihn aus der Vor Frue Kirke kannte. Er malte Jesus so, wie die Maler ihn zu allen Zeiten dargestellt hatten.
Pastor Throlle äußerte sich anerkennend. »Jetzt passt er auch gut zu Johannes und Petrus auf den Flügeln«,
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