Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
sagte er.
Carl nickte.
Aber die Schmeichelei traf ihn wie Säure ins Gesicht. Denn der Pastor sagte die Wahrheit. Alle drei Figuren auf dem Altarbild, Jesus, Johannes und der treulose Petrus, hatte der gleiche Künstler geschaffen, und zwar nicht er, sondern Thorvaldsen.
Die Apostel im Boot glichen äußerlich den Skippern, die für sie Modell gesessen hatten, und doch erschien ihr Ausdruck seltsam leblos, als trüge das Fischerboot auf dem See Genezareth eine schwere Last: keine Menschen, sondern Marmorskulpturen.
Durch die Altartafel wurde Carl populär. Die Stadt nahm ihn als ihren Maler an. Auf der Straße wurde er von jedermann gegrüßt. Wie immer ging er jeden Sonntag in die Kirche, aber nur selten blickte er während des Gottesdienstes auf sein Werk, und wenn, dann suchte sein Blick stets die Hand Jesu. Das war seine Signatur, sein kleiner Sieg inmitten der Niederlage.
In der Nacht vor der Weihe der Altartafel hatte er einen Traum. Er stand vor seinem noch unfertigen Bild. Er trat einen Schritt zurück, um das Gemälde zu betrachten, aber es war so groß, dass er nur einen kleinen Ausschnitt sehen konnte. Jetzt bemerkte er, dass man die Glasdecke und die Wände seines Ateliers entfernt hatte, um Platz zu schaffen. So groß war es. Aber egal, wie weit er auch zurücktrat, er konnte das ganze Bild nicht übersehen. Jesus türmte sich über ihm auf. Das Boot wurde zum Vollschiff. Eine gewaltige Dünung erhob sich in alle Richtungen. Er musste bis zum Strand gehen, um es zu überblicken. Das Gemälde war viel größer als das Haus in der Teglgade. Die Leinwand schien ein künstlicher Himmel zu sein, der sich über dem Gebäude erhob.
Erst jetzt sah er, was er geschaffen hatte. Das wütende Meer zeigte sich in einem kräftig leuchtenden Kobaltblau. Er konnte direkt hindurchsehen, hinunter in ein wimmelndes Leben von Robben, schwimmenden Eisbären und Narwalen, alles Tiere, an die er sich aus seiner Zeit auf Grönland erinnerte; Sägerochen und Haie, aber auch Seeungeheuer aus der Welt der Fantasie, die ihre warzigen Fangarme dem Schiff entgegenstreckten, als wollten sie es in die Tiefe zerren. Überall schwammen tote, ertrunkene Seeleute umher oder paddelten in leeren Särgen. Er sah eine Reihe von sauber abgebalgten Skeletten, andere hatten noch Fleischfetzen an ihren halb aufgefressenen Körpern; aber alle bewegten sich so seltsam, als hätte sie das Leben noch nicht ganz verlassen. Sie krallten sich an Tauenden fest und versuchten, das Schiff zu entern. Es war nicht zu entscheiden, ob das Bild Karneval oder den Tag der Auferstehung zeigte. An Deck tanzten die Toten mit den Lebenden, Männer und Frauen durcheinander, halb bekleidet oder nackt, ein kunterbuntes Chaos von unanständigem, naturwidrigem Leben.
Und mittendrin stand Christus mit erhobener rechter Hand. Strahlenglanz leuchtete um seine Stirn. Er hatte Fräulein Camradts Gesicht, und die Brüste über dem blauen Gewand waren entblößt. Carl bot sich ein Götzenbild, lüstern und blasphemisch, bedrohlich und lockend.
Ein unmögliches Gemälde. Carl wusste es, noch während er träumte. Niemand konnte ein derartiges Werk schaffen, und wenn jemand es tat, würde es niemals gezeigt werden können.
Aber er hatte es geschaffen. Er hatte es so groß gemalt, dass es nicht versteckt werden konnte, sondern für die Welt sichtbar war.
Carl erwachte und hörte sein eigenes Herz vor Angst klopfen – als würde jemand an die Tür pochen und eintreten wollen.
C arl hielt sich für treu.
Treu gegenüber seinem Ruf und seiner Kunst, treu gegenüber den Menschen, die ihn liebten und von ihm abhängig waren, treu gegenüber Anna Egidia und den Kindern.
Und doch krähte der Hahn für ihn. Und er krähte jeden Morgen zum dritten Mal.
»Ich bin ein Petrus«, dachte er, wenn er in seiner Koje lag, den Geräuschen des Schiffes zuhörte und nicht schlafen konnte. »Ich tue alles, was ich muss. Ich stehe jeden Morgen auf. Ich umarme meine Kinder, ich küsse meine Frau, ich schreibe ›Liebe‹ und ›Dein ergebener‹ in meine Briefe, ich male meine Bilder. Aber es geschieht ohne Überzeugung. Ich weiß nicht, woher die Überzeugung kommt, wenn sie sich einstellt, und ich weiß nicht, warum sie ausbleibt. Ich weiß nur, dass in meinem Mund alles zur Lüge wird, wenn ich die Überzeugung nicht spüre. Dann kenne ich meine Lieben nicht. Dann kenne ich die Gnade nicht, und nichts hat mehr einen Sinn.«
Auch die Farben nicht.
Er hatte Angst vor der
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