Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
kleinen Tüte in der Hand vor ihm stand, waren ihm Zweifel gekommen, ob das Pulver die richtige Mischung enthielt.
»Entschuldigen Sie«, bat er, »darf ich mal das Etikett sehen?«
Er beugte sich hinunter zu der Tüte, die die Apothekertochter in den Fingern hielt. Statt die Aufschrift des Etiketts begann er, sich ihre Hand näher anzusehen. Sie hatte wunderbar lange schlanke Finger und einen sehr fein geformten Handteller. Sanft fasste er nach ihrem Handgelenk und drehte die Hand mit der Tüte. Er sah die blassrosa schimmernden perlmuttfarbenen Nägel, die Glieder, die sich in der Mitte ihrer eleganten Finger nicht verdickten, die Knochen, die so diskret von der zarten Haut gepolstert wurden, dass sie in keiner Weise hervorstachen, die feine Rundung der Handoberfäche, eine unwiderstehliche weibliche Anmut, zart und doch aufreizend – während seiner intensiven Betrachtung übermannte ihn eine Inspiration.
»Herr Rasmussen«, sagte Fräulein Camradt.
Er wachte regelrecht auf.
»Ich war ein wenig abgelenkt«, entschuldigte er sich.
Eigentlich hatte Reimer Schuld. Auch seine Hände waren schlank und hübsch für einen Mann. Sie passten zu seinem schmächtigen und doch sehnigen Körper. Aber er hatte nicht Fräulein Camradts Hände. Er hatte die Hände eines Arbeiters, harte Handfächen, fache, dicke Fingerkuppen. Jesus war Zimmermann, Reimer Schreiner. Aber Carl malte keinen Zimmergesellen; es ging ihm um die Seele, um Erlösung und Hoffnung. Hoffnung und Erlösung hatten eben Hände wie Fräulein Camradt.
Diese Inspiration überkam ihn, als er sich über die Tüte mit dem abführenden Pulver beugte.
Er hatte Jesus Hände gefunden.
Gerade in den letzten Tagen hatte Carl mit dem Wirtshausbesitzer immer wieder exerzieren müssen.
»Die Hand hoch!«, kommandierte er, und Reimer hob die Hand und krümmte den Zeigefinger um den unsichtbaren Abzug einer Pistole.
»Nein, nicht so!«
Und dann erklärte er ihm zum hundertsten Mal, dass er Zeigefinger und Daumen spreizen und die übrigen Finger an die Handfäche legen sollte.
Nun konnte er sich überhaupt nicht mehr auf den Schreiner konzentrieren. Stattdessen sah er Fräulein Camradt vor sich. Als Carl das nächste Mal nach Ærøskøbing kam, ging er in die Apotheke und fragte, ob sie ihm Modell sitzen wollte. Sie sah ihn überrascht an und errötete. Sie musste ihren Vater fragen. Theodor Camradt kam ins Ladenlokal und lud Carl ins Hinterzimmer ein, das voller Waagen, Gewichte, Kolben, Dreifüße und Mörser stand.
»Es ist doch wohl nichts Unanständiges?«, erkundigte sich der Vater.
Carl erklärte, es wäre für das Altarbild.
Der Apotheker runzelte die Brauen. »Waren denn während des Sturms auf dem See Genezareth Frauen an Bord?«
»Christus’ Hände«, sagte Carl.
Ihm war klar, dass Theodor Camradt nichts verstand. Aber er saß hier mit der Billigung des Pastors, und das genügte dem Apotheker. Schließlich waren sie alle gebildete Menschen. Sie gehörten demselben Stand an. Im Grunde handelte es sich doch um ein schmeichelhaftes Angebot.
Fräulein Camradt saß Carl einmal in der Woche Modell, eine fröhliche und offene junge Frau. Sie erzählte, dass ihr Vater sie noch immer wie ein Kind behandelte. Der Apotheker nannte sie Himmelskind oder Engelsauge.
»Können Sie sich das vorstellen!«, entfuhr es ihr; sie sah Carl bittend an, als hätte sie Angst, dass er diese Angewohnheit übernehmen könnte. »Sie müssen mir versprechen, dass Sie mich Leonora nennen. Darf ich Sie dafür Carl nennen? Sie haben so viele Vornamen, aber ich denke, diesen Namen hören Sie bestimmt am liebsten.«
Er nickte, und seine Wangen glühten bei dieser unerwarteten Intimität. Mühsam beherrschte er den Drang, sie Engelsauge zu nennen. Er würde etwas anderes damit meinen als ihr Vater.
»Tischler Reimer bekommt meine Hände?«, fragte sie.
»Nein, Jesus bekommt Ihre Hände.«
Sie errötete und knickte kichernd ein, sie musste ihr Gesicht hinter den Händen der Erlösung und der Hoffnung verbergen. Gern hätte er Fräulein Camradt so gemalt. Mit entblößtem Nacken und aufgestecktem Haar, das sich in winzigen feuchten Locken um die graziöse Rundung ihres weißen Nackens ringelte. Gern hätte er gemalt, wie ihr Blick auf einer Blume verweilte, mit Licht, das schräg auf die Hände fiel, die in ihrem Schoß ruhten, oder am Strand, mit der hellvioletten Sonne eines Sommerabends, die langsam hinter dem Horizont untergeht. In unzähligen Posituren hätte er
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