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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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hinauswollte. Er wusste genau, wie weit er gehen konnte, er presste sein Talent aus. Und doch hatte es ihn viel Mühe gekostet, so weit zu kommen. Sollte denn alles vergeblich gewesen sein?
    Hin und wieder war in seinem Leben eine Gewissheit aufgetaucht, die bisher allerdings von den Tatsachen widerlegt wurde. Zumindest, wenn man die Anerkennung und die Einnahmen mit einrechnete. Nun hatte diese Gewissheit jedoch begonnen, ihn völlig zu vereinnahmen, und er hatte sie unermüdlich Anna Egidia gepredigt, die immer wieder dieselbe tröstende Antwort gab.
    »So schlimm ist es doch auch wieder nicht.«
    Sie spürte offenbar, dass es gefährlich sein könnte, ihn in seinen düsteren Prophezeiungen über ihren baldigen Untergang zu bestärken. Damit hatte sie sicherlich recht, und doch regte er sich auf, wenn sie es nicht tat.
    »Ja, du bist wahrlich keine große Hilfe«, sagte er.
    Dann lachte sie ihn aus. Und doch hörte er den Nachdruck in ihrer Stimme, wenn sie ihn zurechtwies.
    »Willst du wirklich, dass ich dich auch noch unterstütze, wenn du dich in deinem Pessimismus begräbst? Wo soll denn das hinführen mit uns?«
     
    Ständig fror er. Stets trug er zwei Lagen Wäsche – zwei Paar Socken, zwei lange Unterhosen, zwei Wollhemden – und die Katzenfellweste unter dem Hundefellmantel.
    Zu Hause machten sich die Kinder über seine Kälteanfälligkeit lustig, vor allem die kleinen Mädchen Karla, Augusta und Anna Marie.
    »Papa ist dick«, sagte die kleine Karla mit kindlichem Freimut, wenn er am Frühstückstisch in seinen zwei Schichten auftauchte.
    Die achtjährige Anna erfand das Bärenspiel. »Der Bär kommt!«, schrie sie jedes Mal, wenn er den Mantel anzog, um ins Freie zu gehen; dann rannten die drei Mädchen davon, wobei sie in freudigem Schrecken um die Wette heulten.
    Er blieb stumm und schwer stehen und sah ihnen nach.
    »Aber Carl«, sagte Anna Egidia, »die Sonne scheint doch.«
    Sie wollte ihm aus dem Mantel helfen.
    Er wehrte sie mit einer irritierten Schulterbewegung ab. »Lass mich, ich friere.«
    Anna Egidia versuchte es noch einmal, geduldig, als wäre er lediglich ein weiteres Mitglied ihrer großen Kinderschar.
    »Hörst du nicht? Ich friere.«
    Sie ließ die Arme fallen und ging zurück ins Wohnzimmer. Er wusste, dass er sie wieder einmal verletzt hatte. Er konnte es ihr nicht einmal verdenken, dass sie es merkwürdig fand, wenn er sich anzog, als wäre es Winter, obwohl draußen Sommer herrschte. Aber er fror. Die Kälte steckte in ihm. Er zitterte innerlich. Und seine eigenen Kinder lachten ihn aus.
    Nicht einmal die Stunden vor der Leinwand konnten dieses ständige innere Zittern beenden. Darin bestand das Problem. Die Malerei verschaffte ihm nicht länger eine innere Hitze. Wo Inspiration hätte sein sollen, gab es nur Asche. Er brauchte Licht und Wärme, weil er die Kälte in seinem Körper nicht mehr von der Kälte in seiner Seele unterscheiden konnte. Nun lag er vor Grönlands Küste. Er versuchte es ein letztes Mal mit dem stolzen Glauben des Künstlers, dass der Pinsel seine Fackel war. Es musste aus dem Inneren kommen. Die Asche war noch warm. Daran musste er glauben, er musste die Glut darin zum Lodern bringen. Er reiste der Sonne nach, die sich hoch im Norden über Monate an einem kalten Himmel hielt. Die Beständigkeit des Lichts, eine Sonne, die den Horizont überwand und die Rotation der Erdkugel ignorierte, die Sonne der Polarkappe, die Sonne des Inlandeises, die ihr Licht über die Gletscher ausgoss, ohne sie zu schmelzen. Sie war seine Verbündete.
    Und dann war da noch Jonas’ Blick.
    Carl hatte sich für das Schwierigste entschieden, er war zweiundfünfzig Jahre alt, und alles wurde immer schwieriger.
     
    Wieder dachte er an Anna Egidia und spürte einen Anfug von schlechtem Gewissen. Sie tat ihr Bestes. Wieso fiel es ihm so schwer, das anzuerkennen? Weshalb musste er sie erst verlassen, um einzusehen, wie viel er ihr zu verdanken hatte?
    Harry Ryberg, der Steuermann der Peru, hatte seine Liebste verloren. Er hatte nie wieder geheiratet, daher brauchte er den Herrn. Carl hatte Anna Egidia gefunden, als er Henrietta verlor. Nun lief er herum und fror. Egal, auf welchem Breitengrad er sich befand, er hüllte sich ein, und in seinen dunkelsten Stunden hatte er abschätzig von ihr gedacht, dass es sich bei ihr auch nur um so eine Art Mantel handelte, der ihn vor der Kälte des Lebens schützte. Aber vielleicht hatte er etwas übersehen. Vielleicht war Anna Egidias Liebe seine

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