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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Kampf gewonnen werden. Dort würde er neue Inspirationen bekommen und seine Fähigkeiten entwickeln, anstatt in Marstal zugrunde zu gehen.
    Oder Paris. Warum nicht Paris? Die Stadt, aus der dieser furchtbare Franzose kam, der Ort, an dem Künstler alles aufs Spiel setzten, um ihre radikalen Ideen über die reinen Farben zu verfolgen, wo sie unter Einsatz ihres Lebens und eines möglichen Todes als Unbekannte, Verachtete oder Übersehene malten. Bei dem letzten Gedanken musste er lächeln. So weit würde er nie gehen. Dann hätte er ebenso gut beschließen können, Selbstmord zu begehen.
    »Wie Du siehst, erwache ich zu neuem Leben. Nun liegt es an Dir, mich zu verstehen und mir zu helfen, so gut, wie Du es vermagst.«
    Er beendete den Brief mit dieser in ihrem Appell unmissverständlichen Ermahnung, wie er hoffte, und unterschrieb wie immer mit seinem vollen Namen. J. E. C. Rasmussen.
    Vorbei die Zeit, als er bloß Carl geschrieben und immer hinzugefügt hatte: »Gute Nacht, meine liebe kleine Frau« oder »Hundert zärtliche Gedanken«. Jetzt, da er am Boden lag und sich elend fühlte, hatte er keine Kraft für derartige Dinge.
    Einen Anfug von schlechtem Gewissen verspürte er allerdings schon, als er seinen vollen Namen am Schluss eines Briefes sah, der voller ausgesprochener und unausgesprochener Vorwürfe steckte. Aber war er nicht am strengsten sich selbst gegenüber? Ständig fürchtete er, Anna Egidia nicht genügend zu lieben. Wenn sie ihm dabei doch nur besser helfen könnte. Wenn er sich von seiner Selbstsucht befreien sollte, musste sie auch die ihre aufgeben. Sie opferten sich beide für die Kinder, aber er erbrachte das größere Opfer, denn er hatte die Kunst in der anderen Waagschale.
     
    Es war lange her, dass er auf der Leinwand sein Bestes gegeben hatte. Die Pläne für eine Reise nach Ägypten hatte er vor einigen Jahren aufgeben müssen, weil er Anna Egidias Angst spürte, mit den Kindern allein zurückzubleiben. Sein Wunsch, eine Reihe von Bildern mit biblischen Motiven zu malen, hatte sich nie erfüllt, da er zumindest ein einziges Mal hätte vor Augen haben müssen, was er später auf die Leinwand bringen wollte. In London hatte er sich Fotografien aus Ägypten und Palästina gekauft. Sie waren teuer gewesen, konnten die Wirklichkeit dennoch nicht ersetzen; die Inspiration blieb aus, obwohl er unzählige Skizzen vom Einzug Jesu in Jerusalem angefertigt hatte.
    Vier Kinder hatte er damals gehabt, als er von einer Reise nach Ägypten träumte. Nun waren es acht. Helga, die Älteste, war achtzehn, Karla, die Jüngste, wurde im Dezember vier Jahre alt. Es fiel genügend Arbeit an, obwohl sie sich ein Dienstmädchen leisten konnten, und an den Wasch- und Bügeltagen stand das Haus auf dem Kopf. Immer gab es jemanden, der gerade zahnte, und ständig musste eines der Kinder zu den Hausaufgaben angehalten werden, weil sich die Schule beschwert hatte. Am liebsten mochte er Karla. So war es immer gewesen. Das Jüngste war immer sein Liebling, und so hatte er jedes Kind der Reihe nach am liebsten gehabt. Ihn zog ihre Unschuld an. Bei einem Kind handelte es sich um einen Menschen in all seiner rührenden Nacktheit, dessen Seele sich noch unmittelbar öffnete.
    » Hoppe, hoppe Reiter,
wenn er fällt, dann schreit er …«
    Karla saß auf seinem Knie und schaukelte, wobei er sie mit beiden Händen festhielt. Er hielt ihrem Blick stand, bis sie in lauter Ausgelassenheit den Kopf zurückwarf vor Lachen. In solchen Momenten vergaß er sich. Er lachte ebenso laut wie sie. Seine letzten, noch nicht endgültig ausgetrockneten Quellen füllten sich. Das Kind konnte er erreichen, und das Kind erreichte ihn. Aber nur Karla konnte diese Quelle sprudeln lassen. Vor der Leinwand passierte nichts dergleichen mehr.
    » Fällt sie in den Sumpf,
Macht die Karla plumps!«
    Und dann ritten sie gemeinsam auf den Wegen der Kindheit. Karla war die Letzte. Anna Egidias letzte Schwangerschaft lag vier Jahre zurück, nun würde sie kein Kind mehr empfangen. Für sie bedeutete es sicher eine Erleichterung, ihn betrübte es. Ihm erging es mit Karla wie den Eskimos mit dem Novembertag, an dem die Sonne zum letzten Mal hinter dem Horizont verschwindet und die Winternacht beginnt. Nun sollte die Kindheit nicht mehr auf ihn leuchten. Nun wurde er zum Einsiedler in der fensterlosen Zelle des Alters.
    Noch zehn, fünfzehn Jahre würde er in der Teglgade Kinder um sich haben. Aber wenn die Kinder das Schulalter erreichten,

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