Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
berühmt für das Licht auf ihren Leinwänden. In seiner Unkenntnis glaubte das Publikum, das Licht hätte etwas mit der Lage der Stadt am äußersten Ende einer Landzunge zu tun, an allen Seiten von Meer umgeben, das die Sonne refektierte. Aber er wusste es besser. Das Licht kam weder vom Himmel noch aus dem Meer. Es entstand auf der Leinwand, durch die Wahl der Technik. Mit Ausnahme von Archer hatten die Skagenmaler die Lehre der Akademie über die Zwischentöne aufgegeben. Die ständigen Reisen nach Paris hatten sie letztlich verdorben. Sogar der anständige Philipsen hatte in Kopenhagen lange Gespräche mit diesem sonderbaren Franzosen geführt, für den Carl nichts als Abscheu empfand. Auch Philipsen ließ sich beschwatzen, obwohl er sich noch immer hinter seinen Kühen auf Saltholm versteckte. Nur dass die Kühe auf seinen Bildern keine Kühe mehr waren, sondern ein Bruch mit dem Grundgesetz der Malerei.
Und ihn quälte weiterhin eine einzige Frage: Reiste er in Wahrheit nach Grönland, um sich der neuen Malerei zu ergeben? Erlag er freiwillig der Versuchung? Wollte er verwandelt zurückkehren? Suchte er dort oben ein menschliches Drama, war es das Licht – oder wollte er sich auch unter die Gesetzesbrecher mischen?
Die Eskimos hatte er damals nicht verstanden. Wie würde er sie diesmal sehen? Würde er ihre Seele finden oder würden sich ihm Geheimnisse offenbaren, vor denen er bisher die Augen fest verschlossen hatte?
Würde er diesmal wagen hinzusehen?
Welche Folgen hätte dieses Hinsehen? Würde er den letzten Rest seines Glaubens verlieren? Schloss ihn die Mitternachtssonne, diese heidnische Gottheit, in ihre Arme?
Carl hatte Hans Egede gemalt, und er fühlte, dass er damals einen Pakt mit Jonas schloss, dem stummen Zuschauer, dessen Seele sich ihm geöffnet hatte. Aber wohin führte dieser Pakt?
Damals, auf der Schwelle zwischen Kindheit und Mannesalter, als er mit den Jungen aus Marstal auf dem Lindesbjerg saß, hatte er das Gleiche empfunden. Er war nach Marstal zurückgekehrt, aber das Versprechen hatte sich als uneinlösbar erwiesen. Seine Kunst hatte keine Brücken über die Schluchten geschlagen. Einsam stand er auf der einen Seite und schrie in die Leere. »Wie in einem leeren Zimmer zu singen«, hatte Helena Nyblom gesagt. So war es.
Carl lag in seiner Koje und grübelte. Je nördlicher er kam, desto größer wurden seine Zweifel. Er sehnte sich zurück nach Dänemark. Eigentlich wollte er nichts anderes als Frühlingsblumen malen, grüne Bäume, Stimmungen vom Inselmeer und Ærøs sanften Hügeln; unbekümmerte Bilder, die sich nicht für etwas anderes ausgaben als das, was sie waren, und in denen er sich seinen Studien über die Wirkung des Lichts hingeben konnte, wenn die Sonne nach einem Schauer die Wolken durchbrach. Trotzdem lag er hier und quälte sich selbst auf einem Schiff, das nordwärts stampfte, in Richtung Eisberge und einer Kälte, bei der die Farben in den Tuben gefroren.
»Ach, wäre ich doch ein unbedeutenderer Künstler«, dachte er bitter, »ein ganz kleiner Künstler, von dem niemand etwas erwartet, am wenigsten er selbst.«
Er hatte das Gefühl, ein Sonnenstrahl würde ihn durchfahren. Dann kehrte das innere Regenwetter zurück.
»Aber vielleicht bin ich ja bloß so ein kleiner Künstler«, überlegte er, von neuem Missmut gepackt, »ein kleiner Künstler, der unter dem Unglück leidet, viel zu viel zu verlangen.«
Er stand auf und setzte sich an den festgebolzten Tisch der Kajüte, wo er fieberhaft begann, seine Gedanken Anna Egidia mitzuteilen. Er klagte über den Druck in der Brust, und wie so oft dachte er über seinen Tod nach, der seiner Ansicht nach unmittelbar bevorstand. Er legte ihr seine Pläne dar, sich nach der Rückkehr in Kopenhagen niederzulassen. Sie könnte sich ihm anschließen, wenn das Haus in Marstal verkauft wäre. Nach Marstal wollte er unter keinen Umständen zurück. Auch müssten sie ein ernstes Gespräch über ihre Angelegenheiten führen. Den letzten Satz formulierte er bewusst vage. Sie mochte hineininterpretieren, was sie wollte.
Er fuhr fort, von seinen Plänen zu berichten, die immer weitschweifiger wurden, wenn er nicht wieder in düstere Ankündigungen seines bevorstehenden Hinscheidens verfiel. Er wollte eine Reise nach Berlin, Dresden und München unternehmen, er war nie dort gewesen. In diesen Städten blühte die Kunst. Auch dänische Künstler waren hoch angesehen und konnten sogar ihre Werke verkaufen. Jetzt musste der
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