Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
schöpferische Quelle. Vielleicht war es ihr Verdienst, dass er den Herrn als einen liebenden, schöpferischen Gott hatte sehen können und nicht nur als einen kalten, unbarmherzigen Herrscher, der seinen Untertanen Unterwerfung und Selbstentäußerung diktierte, wie in Rybergs Fall.
»Ich schaff’s nicht allein«, erklärte der Steuermann. »Ich komme recht gut allein zurecht«, erwiderte Carl, und vielleicht hatte Anna Egidia ihm die Kraft gegeben, diese Worte zu sagen.
Und nun hatte er sie verlassen.
Kurz vor der Abreise hatte Carl Helena Nybloms jüngste Novellensammlung gelesen und lobende Worte gefunden, weniger über die Novellen als über die Autorin, die Anna Egidia und er in Kopenhagen getroffen hatten. Er hatte damals lange mit ihr gesprochen und sie für erstaunlich kunstverständig gehalten.
»Wenn man etwas von seinem Herzen gibt – und das ist so in der Kunst -, dann ist es verletzend, wenn die Menschen es wie ein Butterbrot verspeisen«, hatte die Schriftstellerin gesagt.
Helena Nyblom hielt er noch immer für eine attraktive Frau, obwohl sie auch nicht mehr die Jüngste war. Eine schlanke Figur, groß und aufrecht, das blonde Haar hochgesteckt. Sie war Halbschwedin und sprach Schwedisch und Dänisch fießend; dennoch fühlte sie sich eher den Dänen verbunden, die sie als ihre Landsleute bezeichnete.
Als Autorin glaubte sie sich jedoch weder verstanden noch gewürdigt.
»Häufig habe ich das Gefühl, als würde ich in einem leeren Zimmer singen«, sagte sie, wobei sie ihre Hände mit einem melancholischen Blick ihrer blauen Augen betrachtete.
Helena Nyblom hatte Hände wie Fräulein Camradt.
Als eine Reise in die Einsamkeit bezeichnete sie das Künstler-Dasein. Es schwang keinerlei Bitterkeit in ihrer Stimme mit, als sie Carl einen Blick zuwarf.
»Ja, das kennen Sie sicherlich auch.«
Vermutlich spielte sie auf seine erste Grönlandreise an. Sie hatten sich damals auf Schloss Charlottenborg kennengelernt, als seine Bilder ausgestellt wurden.
Aber Carl spürte, dass eine tiefere Bedeutung in ihren Worten lag. Sie sprach nicht nur über die Einsamkeit auf einer Reise in einen entfernten Winkel dieser Welt. Es ging um die Einsamkeit, die einen Künstler immer begleitete, egal, wo er sich befand. Diese Einsamkeit kannte sie, also kannte sie auch ihn. Mit einem Mal fühlte er sich verstanden.
Anna Egidia hatte still danebengesessen. Erst als Helena Nyblom höfich nach den Kindern fragte, lebte sie auf.
»Sie hat für alles Verständnis und versteht es, ihre Empfindungen so hübsch auszudrücken«, hatte er hinterher gesagt. »Vermutlich ist sie eine vorzügliche Ehefrau und Mutter …«
Er hatte gezögert. Und dann hinzugefügt: »… und eine treue Freundin.«
Anna Egidia war bei diesen Worten zusammengesunken. Eine Zeit lang hatte sie vor sich hin gestarrt. Schließlich hatte sie beinahe lautlos erwidert: »Also ganz und gar nicht wie ich.«
So viel hätte er in dieser Situation tun können. Er hätte sie zärtlich umarmen können. Er hätte sagen können: »Du Dummkopf. Genauso bist du.«
Stattdessen hatte er gereizt reagiert. »Du musst aber auch alles falsch verstehen. Darf man sich denn in deiner Gegenwart nicht einmal mehr lobend über andere äußern?«
Anna Egidia hatte ihm nicht widersprochen, sondern nur mit gesenktem Kopf dagesessen, und er hatte begriffen, dass sie ihm keine Vorwürfe machte, sondern verletzt war. Augenblicklich überkam ihn ein Schuldgefühl. Zumal sie die böse Absicht hinter seinem Lob über Helena Nyblom richtig gedeutet hatte.
Er hätte sich entschuldigen sollen, aber er ließ es, und sein unbewältigtes Schuldgefühl wurde zu einem Schweigen, das noch im Augenblick des Abschieds zwischen ihnen stand.
Sein voller Name lautete Jens Erik Carl Rasmussen.
Mit diesem Namen unterschrieb er in späteren Jahren auch seine Briefe an Anna Egidia. Nicht mit Jens Erik oder Carl.
J.E.C. Rasmussen.
Dein ergebener.
W ährend seines ersten Besuchs auf Grönland war Carl versucht, mit der Palette und allem, was er über den Aufbau von Bildern gelernt hatte, zu brechen und mit etwas vollkommen Neuem zu beginnen. Aber er hatte sich zu zügeln gewusst und sich an das gehalten, was er gelernt hatte. Ein Fundament war notwendig.
Reiste er nun nach Grönland, um sich erneut in Versuchung führen zu lassen? Segelte er nach Grönland, um das zu tun, was er vor zwanzig Jahren nicht gewagt hatte? Die Palette in Stücke zu schlagen?
Die Skagenmaler waren
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