Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
arktische Natur denkt. Hier kann der Mensch ja unmöglich siegen.«
»Damit haben Sie wohl recht. Aber sind Sie sich darüber im Klaren, dass der Grönländer in aller Regel der Ansicht ist, der Ursprung des Bösen läge in anderen Menschen und nicht in der Natur? Wird ein Mensch krank – und Krankheiten sind ja mein Gebiet -, glauben die Eskimos, die Ursache der Krankheit bestünde darin, dass ein feindlich gesonnener Mensch die Seele des betroffenen Organs geraubt hat.«
»Aber das ist der reinste Aberglaube.«
»Ja, so nennen wir das. Doch es passiert auch bei uns, dass ein Mensch nur aufgrund der Feindseligkeit seiner Umgebung dahinsiecht und aufgibt. Vor allem kleine Gemeinschaften können oft sehr hart zu ihren Mitgliedern sein.«
Carl fragte Mørk nach Jonas.
»Oh, der Unverwundbare«, sagte Mørk mit einem ironischen Lächeln. »Tja, den kenne ich. Er kennt Sie übrigens auch. Er hat einen Namen für Sie, und der lautet nicht Rasmussen. Er nennt Sie angerlartoq.«
»Er spricht also?«
»Ja, seine eigene Sprache. Ich verstehe es ein wenig.«
Mørk lächelte entschuldigend, als wollte er seine Sprachkenntnisse bagatellisieren.
» Angerlartoq bedeutet ›Derjenige, der heimkehrt‹.«
»Nun ja, eigentlich bin ich derjenige, der von zu Hause aufgebrochen ist.«
»Jonas sieht das sicher anders. Er genießt unter den Eskimos den Ruf, so etwas wie ein Schamane zu sein. Er hat mir nichts davon erzählt, aber ich habe unzählige Geschichten über ihn gehört. Die Eskimos sind der Meinung, dass Jonas von allen Tieren des Landes und des Meeres geboren werden kann, genau so, wie er es möchte. Sie sagen, er macht es, um uns Menschen zu erzählen, was er erlebt hat. Er hat ausprobiert, als Hund, als Rentier, ja sogar als Wolf zu leben, aber am besten gefällt es ihm offenbar im Meer.«
»Ein ziemlich farbenprächtiger Mythos«, entgegnete Carl. »Daran erkennen Sie die reiche und unverdorbene Fantasie des Naturvolks.«
»Für die Eskimos ist das bestimmt nicht erfunden, sondern die reine Wahrheit.«
»Und wie komme ich ins Bild?«
»Dazu komme ich noch. In einer der Geschichten, die ich gehört habe, wurde Jonas eines Tages, als er als Robbe im Meer schwamm, harpuniert und getötet. Der Fänger nahm ihn mit nach Hause und häutete ihn, und da die Frau des Fängers dabei zufällig neben ihrem Mann stand, ging Jonas in sie über, um als Mensch wiedergeboren zu werden. Er soll recht detailliert geschildert haben, wie sich der Aufenthalt im Mutterschoß aus der Sicht eines Embryos ausnimmt. Offenbar ist der Nabel ein sehr bequem angebrachtes Fenster, und die Geschlechtsteile der Frau stehen natürlich für die Tür.«
Carl senkte den Blick.
»Die Eskimos haben einige sehr komplizierte Beschwörungen, die sicherstellen, dass ein Fänger, der während der Jagd umkommt, in Form eines Neugeborenen ins Leben zurückkehren kann. Daher stammt die Bezeichnung angerlartoq. Der, der nach Hause zurückkehrt.«
»Die Eskimos haben also eine Vorstellung von einer Seele, die vom Körper getrennt ist?«
»Nicht von einer Seele, sondern von einem ganzen Bienenschwarm an Seelen, die ihnen im Körper herumschwirren.«
»Aber es sind doch Christen.«
»Ja, derzeit haben sie eine ihrer Seelen der Kirche als Pfand überlassen. Aber wie Sie sehen, unterscheidet sich ihr Verständnis der Unsterblichkeit von unserem. Sie haben keinen Bedarf für eine Ewigkeit, in der man dort oben hinter den Wolken versteckt wird. Stattdessen genießen sie das Leben in all seinen Formen.«
»Sie haben mir noch immer nicht erklärt, warum ich ein angerlartoq sein soll?«
»Sie sind doch Künstler. Nicht dass Jonas eine besondere Vorstellung über Kunst hätte. Aber er spürt eine Verbindung zwischen dem, was Sie tun, und seinen eigenen – wie sollen wir es nennen? – etwas rätselhafteren Aktivitäten. Er glaubt sicherlich, dass Sie, genau wie er, als alle möglichen Wesen wiedergeboren werden können, um von ihren Leben zu erzählen. Ich glaube, er begreift Kunst so: Einen Künstler kennzeichnet die Fähigkeit, verschiedenste Gestalten anzunehmen. Ich habe ihm erzählt, dass Sie in Dänemark vor allem als Marinemaler berühmt sind, und er schrak regelrecht zusammen. Sie wissen ja, das Meer spielt eine große Rolle in der Vorstellungswelt der Eskimos. Das ist nicht überraschend. Schließlich liefert das Meer den Fängern den größten Teil ihrer Nahrung. Einen Messias gibt es bei den Eskimos nicht, aber ich habe immer gedacht, wenn es
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