Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
einen leichten Schlaf und erwachte von Stimmen an Deck. Der Lotse kam an Bord. Carl gab es auf, noch einmal einschlafen zu wollen, und ging an Deck, um eine Tasse Tee zu trinken. Sechs angeworbene Grönländer hatten den Lotsen den weiten Weg von Godhavn herausgerudert, nun saßen und lagen sie rund um die Luke, jeder mit einem dampfenden heißen Kaffee in der Hand. Die Peru hatte ihre Schaluppe im Schlepptau. Bei den Grönländern handelte es sich um junge Männer, und doch ertappte er sich dabei, wie er einem nach dem anderen ins Gesicht starrte.
Er suchte nach Jonas.
Die Luft war klar und ruhig. Die Segel hingen schlaff herab. Die Peru trieb mit dem Strom. Als die Ruderer ihren Kaffee getrunken hatten, wurde ihre Schaluppe längsseits gezogen. Sie verschwanden über die Bootsleiter und nahmen mit raschen Schlägen Kurs auf die vierzehn, fünfzehn Seemeilen entfernte Küste.
Gegen Mittag frischte es zu einer unbeständigen Brise aus Nordost auf, und die Peru kreuzte auf Godhavn zu, am Spätnachmittag faute der Wind jedoch erneut ab, und gegen neun Uhr herrschte wieder vollkommene Windstille. Kurz darauf tauchten drei Schaluppen mit je sechs Ruderern auf. Leinen wurden ausgeworfen und die Schaluppen begannen, das Schiff an die Küste zu ziehen, die sich hier fast zwei Kilometer senkrecht aus dem Meer erhob. Im Unterschied zu Südgrönlands gezackten Granit- und Gneisformationen schimmerten die Felsen hier rostrot. Sie wiesen eine deutliche Schichtung auf und glichen Treppenstufen, die den Neuankömmling trügerisch in die große Eiswüste hinter den Bergspitzen einluden.
Carl stellte seine Staffelei auf und befestigte eine Leinwand. Das Licht hatte sich trotz des späten Zeitpunkts am Abend nicht verändert. Nach einiger Zeit sah er ein, dass Malen zu anstrengend war. Wegen der Kälte ließen sich die Farben nur mühsam aus den Tuben drücken.
Godhavn entsprach seinem Namen. Carl verbrachte einige gute Tage im ›Guten Hafen‹. Er besuchte den Leiter der Handelsniederlassung, Zacharias Engdahl, und wurde eingeladen, sich bei dessen Familie einzuquartieren, die sich als gebildet und liebenswürdig herausstellte. Engdahls Gattin war in Anna Egidias Alter, hielt sich aber sehr gerade, obwohl sie genau wie Anna Egidia acht Kinder zur Welt gebracht hatte. Er unterließ es nicht, dies in einem seiner Briefe nach Hause zu erwähnen. Zum Abschied schenkte sie ihm ein Glas eingewecktes Schneehuhn.
Carl fragte Engdahl, ob er etwas über Jonas wisse. Lebte sein Begleiter des ersten Besuches möglicherweise noch?
Engdahl stutzte, als Carl diese Frage stellte. Wieso sollte Jonas nicht mehr unter den Lebenden sein?
»Er war kein junger Mann mehr, als ich mich vor über zwanzig Jahren hier aufhielt. Also muss er jetzt schon recht alt sein.«
»Alt?«
Engdahl schüttelte zweifelnd den Kopf.
»So sieht er nicht aus. Er hat noch immer sein schwarzes Haar. Aber sie sind ja schwer einzuschätzen. Sie altern anders als wir. In der Regel schneller. Hier haben wir möglicherweise ein Beispiel für das Gegenteil.«
Darüber hinaus erfuhr Carl, dass Jonas ebenso rätselhaft und rastlos war wie früher. Er tauchte mal hier und mal da auf.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass er uns auf die gleiche Art und Weise beobachtet, wie unsere Entdeckungsreisenden in fernen Gefilden die Gebräuche der Wilden studieren.«
Engdahl hatte nie mit Jonas gesprochen, was Carl nicht überraschte. Vermutlich hatte dies kein Däne bisher getan. Es lag schon eine Weile zurück, seit Jonas das letzte Mal in Godhavn aufgetaucht war, und Engdahl hatte keine Ahnung, wo er sich im Augenblick aufhielt.
Godhavn lag im Windschatten des Nordwinds, hin und wieder wurde es so warm wie an einem Sommertag in Dänemark. Carl arbeitete jeden Tag und konnte sogar seinen Bedarf an Konversation befriedigen. Im Haus der Engdahls lernte er einen Arzt aus Jakobshavn kennen, Johan Mørk, der bis nach Upernavik auf der Peru mitreisen sollte. Bei Mørk handelte es sich um einen Junggesellen, der sich auf der Reise als gute Gesellschaft erwies, voller Anekdoten über die Grönländer, von deren Lebensweise und Gebräuchen er fasziniert war. Carl fiel es schwer, sich an die sonnenhellen Nächte zu gewöhnen, er schlief zu wenig. Dafür hatte er in der Handelsniederlassung zum ersten Mal auf der Reise ein eigenes Zimmer und ein gutes Bett.
In seiner Koje auf der Peru rollte er herum, fror und wurde von all dem Lärm an Bord eines Schiffs
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