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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Eisberge kam näher. Aus der Nähe sah Carl, dass sich hier und da ein Weg öffnete, nicht nur eine schmale Gasse zwischen zwei Eisbergen auf Kollisionskurs, sondern offenes Wasser mit viel Platz zu beiden Seiten.
    Thomsen blickte ihn noch immer mit diesem gefährlichen Glitzern in seinen kleinen, stechenden Augen an. Er hatte Raureif im Bart.
    »Holen Sie Ihre Staffelei, Rasmussen, den Malkasten, das Skizzenbuch, die Palette, den ganzen Kram! Jetzt werden Sie was zu sehen bekommen!«
    Eine Stunde später segelten sie inmitten der Eisberge.
     
    Plötzlich knallte es vom Außenklüver, dann von der Fock, darauf vom vordersten Topsegel. Ein unsichtbares Wesen schien sich im Rigg befreit zu haben und boxte nun mit geballten Fäusten auf das Segeltuch ein. Es handelte sich um Fallwinde und Böen, die durch die Nähe der Eisberge verursacht wurden.
    Es mussten Hunderte sein, abwechselnd weiß und blau und doppelt so hoch wie die Mastspitzen der Peru. Einige waren mitten im Sund auf Bänke aufgelaufen. Jahrelang konnten sie so stehen bleiben, während sie allmählich von Regen, Nebel und der Verdampfung, die die Sommerhitze verursachte, abgetragen wurden. Im Gegensatz zu den großen, ungebrochenen, blanken Formen der anderen Berge, in denen sich ein blendendes Gleißen spiegelte, sobald ein Sonnenstrahl auf sie fiel, schienen die auf Grund gestoßenen Eisberge uralt zu sein. Graugelb und schorfig, wurden sie durch Schlammströme ausgewaschen, und in der Mitte bildeten sich große Löcher, als würden sie allmählich verfaulen. Während sie den unausweichlichen Kollaps erwarteten, nahmen sie in ihrem sterbenden Zustand gespenstische, Unheil verkündende Formen an.
    Carl schüttelte sich, als ginge von dieser Flotte Leviathane, die stumm die Peru umringten, eine Kraft aus, die ihn unvermeidlich mit in ihr Totenreich ziehen würde.
    Ein Eisberg. Worin bestand sein Inhalt? Aus einem toten, auf der Meeresoberfäche schaukelnden Tier, um das sich Eis kristallisiert hatte? Oder aus einem Menschen, der mit dem Gesicht nach unten trieb? Enthielt jeder Eisberg einen Ertrunkenen? War das Meer rund um Grönland ein Friedhof voller schwimmender Mausoleen? Segelten sie inmitten einer Flottille von Toten, die ihre gefrorenen Münder in einem letzten Schrei um Hilfe aufrissen?
    Er wusste, dass diese Visionen Unfug waren. So entstand kein Eisberg. Aber bei seinem ersten Besuch hatte er ähnliche Visionen gehabt, als er vom Meer aus eine Küste betrachtete, die er für das Tor in ein Totenreich hielt. Nun kehrten diese Bilder zurück.
    Sie segelten an einem aufgelaufenen Eisberg vorbei, dessen Oberfäche sich in tiefe Risse und Spalten auföste, als die Luft sich plötzlich mit einem gewaltigen, brausenden Geräusch füllte – als befänden sie sich in der Nähe eines Wasserfalls. Carl kannte das Geräusch, es warnte vor einem kalbenden Gletscher. Würde einer der Berge auseinanderbrechen? Er starrte den aufgelaufenen Eisberg an, der schaukelte, als wäre er im Begriff, zur Seite zu kippen. Doch der Berg wurde von einer Reihe innerer Explosionen erschüttert, wodurch eine riesige Menge gefrorenes Wasser in einen unsichtbaren Hohlraum stürzte. Einen Moment türmte sich der Eisberg zum blauen Himmel auf und im nächsten Augenblick breitete er sich in einer rasch wachsenden Flutwelle aus Eisklumpen auf dem Wasser aus.
    Carl hörte Kapitän Thomsen hinter sich fuchen. Als eine eisige Sturzsee mittschiffs über das Schanzkleid spülte, neigte sich die Peru auf die Seite. Das Schiff richtete sich sofort wieder auf und das Wasser foss durch die Speigatten ab. Über ihnen knallten die Segel, als der Wind sie erfasste. Eisklumpen fegten über das Deck, und die Männer, die sich nicht bereits in die Takelage gerettet hatten, sprangen um ihr Leben, um den schweren, glatten Brocken zu entgehen.
    »An die Pumpen!«, brüllte Thomsen.
    Carl stand zusammen mit dem Kapitän auf der Back. Keiner von ihnen hatte sich verletzt. Allerdings hatte Carl nicht mit der Kraft der Welle gerechnet und war gestürzt; er war ein Stück übers Deck gerutscht, bevor sich das Schiff wieder aufrichtete. Der Kapitän kam auf ihn zu und half ihm auf die Beine.
    »Na, Rasmussen«, sagte er in einem ganz alltäglichen Tonfall, als hätte sich nichts Ungewöhnliches ereignet, »sagen Sie nicht, dass wir hier auf der Peru nicht alles für die Kunst tun.«
    Carl bemerkte, dass Thomsen noch immer seine Stricknadeln in der Hand hielt.
    »Teufel auch!«, fuchte der Kapitän.

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