Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
»Jetzt hab ich eine Masche verloren!«
Als sie sich Upernavik näherten, hatte der Wind gedreht und kann jetzt aus Nordwest. Sie kreuzten zwischen den kleinen Inseln, die ohne Vorwarnung und glänzend wie Seehundrücken aus dem dichten Nebel auftauchten, bis der Hafen an der Luvseite lag. Mit einem einfachen Vorsegel ließen sie sich zum Ankerplatz treiben, wo sie von den beiden Walfängerschaluppen, die den Lotsen an Bord gebracht hatten, an ihren Liegeplatz gezogen wurden. Upernavik war die nördlichste Kolonie. Auch im Sommer ein ungastlicher Ort, heimgesucht von Nordwinden, die nichts anderes brachten als eiskalten Nebel und die jegliche Vegetation erstickten. Eisschollen und kleine Eisberge trieben in den Hafen, in dem noch ein amerikanischer Walfänger vor Anker lag.
In Upernavik ging Mørk von Bord.
» Angerlartoq«, sagte er zum Abschied. »Denken Sie daran, Rasmussen, Grönland ist Ihre Wiedergeburt. Aber zuerst müssen Sie eine Reise ins Meer unternehmen. Und es muss tief hinuntergehen. Ganz nach unten, wo die Sonne klein ist und nicht blendet.«
I n seinem Hinterkopf lauerten Johan Mørks Bemerkungen über die Grönländer. Sollte er sich in eine der Torfhütten wagen? Nur standen sie jetzt leer. Die Sonne hielt sich vierundzwanzig Stunden am Himmel, und die Grönländer waren entweder in den Bergen oder auf dem Wasser. So hatte er sie kennengelernt, auf der Schneehuhnjagd oder in ihren zerbrechlichen Kajaks auf den Wellen schaukelnd, während sie mit der Harpune in der Hand darauf warteten, dass eine Robbe zwischen den Eisbergen auftauchte. Die grönländische Natur hatte etwas Erhabenes und Reines, und seiner Ansicht nach spiegelten sich die Grönländer in dieser Natur wider, in der sie mit so großem Geschick zu überleben gelernt hatten. Die Eskimos schienen ihm unverdorben wie die Natur, erhaben über den kleinlichen Kampf der Zivilisation ums Dasein. Nein, der Eskimo stand nicht wie der sogenannte zivilisierte Mensch mit dem Leben auf Kriegsfuß. Stattdessen hatte er einen Pakt mit der Schöpfung geschlossen. Er war ebenso vertrauensvoll ein Teil der Schöpfung wie das Schneehuhn, wenn es auf seinen schwachen Flügeln über dem Berg aufstieg, oder die Robbe, wenn sie ihren kleinen runden Kopf mit den ausdrucksvollen Augen aus dem Wasser steckte, um in der scharfen frischen Luft Atem zu holen.
Und genau darin lag die poetische Wahrheit dieser merkwürdigen Geschichte über Jonas: Die Zusammengehörigkeit der Eskimos mit der Natur brachte sie natürlich auf die Idee, dass ein Mensch alle Tiergestalten annehmen konnte. Es bestand ja von vornherein eine Bruderschaft zwischen ihnen.
Dennoch spürte Carl, dass seine Urteilskraft ihn diesmal im Stich gelassen hatte. Er hatte sich in Jonas geirrt. Er hatte geglaubt, in seinem Blick etwas lesen zu können, das nicht darin lag. Nun fühlte er sich allein in Grönland. Niemals würde er finden, weshalb er gekommen war.
Mørks Worte über die Nachtseite der Eskimos hatten ihn abgestoßen: Nicht so sehr wegen des Abscheu erregenden Bildes, das der Arzt ihm mit dem Zynismus gemalt hatte, der häufig den Repräsentanten seines Standes zu eigen ist. Nein, eher hielt er die Bereitschaft des Arztes für anstößig, die Schattenseiten des Lebens so zu betonen. Als wollte er die Grönländer mit aller Macht kleiner machen und trivialisieren, als gäbe es keinen Unterschied zwischen Großstadtmensch und Naturmensch. Welchen Sinn hätte es denn sonst gehabt, hierher zu kommen?
Sollte er die Herausforderung annehmen und den Winter über bleiben? Sollte er die Torfhütten, ihr verborgenes und erniedrigendes Leben, aufsuchen? Wurde die Kunst wirklich erst groß, wenn sie auch die Nachtseite des Menschen darstellte, oder war es eher ein fataler Ehrgeiz, der sie ersticken würde?
Carl erinnerte sich an ein weiteres Bruchstück seiner Gespräche mit Mørk. Der Arzt hatte berichtet, wie er in einer der Eskimohütten einen abgeschlagenen Eisbärenkopf fand. Auf den Kopf des Eisbären hatten die Eskimos Sohlenleder, Messer, Glasperlen und Sägespäne gelegt. Um sich mit der Seele des getöteten Tieres zu versöhnen, wie Mørk erklärt hatte. Ein Eisbär wanderte viel herum, daher konnte er die Sohlen für seine abgenutzten Pfoten brauchen. Er sagte dies mit einem Lächeln, doch dann hatte sein Gesichtsausdruck sich abrupt verändert, als er sich vorbeugte, um eine Frage zu stellen.
»Wäre das nicht ein Motiv?«, hatte er gefragt und Carl prüfend angesehen,
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