Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
beschrieb eine derartige Winterstimmung. Hier hatte er versucht, die unbarmherzige Natur und die unerträglichen Bedingungen einzufangen, unter denen die Grönländer überleben mussten.
»Ja, sicher«, erwiderte Mørk ungeduldig, »ich kenne diese Bilder und finde sie wie Ihr übriges Werk meisterhaft.«
Carl wollte ihn unterbrechen, er brauchte kein Lob. Aber Mørk hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
»Sehen Sie, was ich meine, ist eigentlich: Sind Sie auf Grönland jemals in solchen vier Wänden gewesen?«
Carl blickte ihn verwundert an: »Was meinen Sie?«
»Na, in so einer Hütte, in der die Bewohner monatelang zusammengedrängt in der Dunkelheit gelegen und auf die Rückkehr der Sonne gewartet haben?«
Carl schüttelte den Kopf. Mørks Antwort ließ seine Verwunderung nicht geringer werden. Nein, er hatte in dem inzwischen so fernen Winter vor zwanzig Jahren bei Berendtsen gewohnt, dem Leiter der Handelsstation in Godthåb. In dessen großem, ordentlich gezimmertem Holzhaus, das im Übrigen bis zur Verwechslung an das Haus erinnerte, das er in Godhavn gerade so ungern verlassen hatte. Aber was hatte das mit der Sache zu tun?
»Dann versuchen Sie mal, in so eine Torfhütte zu kriechen, in der sich rund zwanzig Menschen einen ganzen Winter hindurch auf wenigen Quadratmetern aufhalten. Ja, das ist eine Atmosphäre, die den Anforderungen unserer europäischen Konstitution nicht entspricht. Sie werden sehr schnell wieder herauskommen, doch selbst ein Aufenthalt von wenigen Minuten wird Ihnen zu einer ganz neuen Sicht auf die Grönländer verhelfen. Die Luft ist erstickend, ein paar Tranlampen sind die einzige Lichtquelle, an den Wänden hängen herausgerissene Seiten der grönländischen Illustreret Tidende, wenn es überhaupt irgendeinen Wandschmuck gibt. Sie haben die Hütten von außen gesehen, Sie kennen also ihre Größe. Aber sind Sie sich darüber im Klaren, wie viele Menschen ein halbes Jahr lang darin zusammengepfercht sind? Die Grönländer sind ja berühmt für ihr geselliges Talent, aber ich bevorzuge für das, was sie in der Winterdunkelheit treiben, die Bezeichnung Unzucht. Ich habe erlebt, wie ein dankbarer Ehemann mir eine Nacht mit seiner Frau als Belohnung für den Arztbesuch anbot. Und die Sauferei haben Sie selbst kennengelernt. Auf Ihrem Bild Der Tanz der Fänger sitzen ja ein paar mit dem Branntweinkrug im Hintergrund. Aber Sie haben nicht wirklich alles gesehen, bevor Sie nicht in einer dieser Hütten gewesen sind. Alle möglichen Krankheiten werden bei dieser Ansammlung von Menschen ausgebrütet. Die Hygiene ist miserabel, sie kriechen in ihrem eigenen Dreck herum. Wir befinden uns hier nicht in einer unserer sogenannten Kulturstädte, in denen die Arbeiter gezwungen werden, in schäbigen Wohnungen übereinander zu wohnen. Wir sind mitten in Gottes freier Natur, bei einem Naturvolk, das die Schwärmer unter uns als einen edleren Menschenschlag ansehen, als wir es sind. Aber ich versichere Ihnen, wenn es um Unsauberkeit geht, kann so eine Torfhütte bequem mit dem übelsten Slum mithalten.«
Carl wandte den Blick ab. Ihm gefiel die Wendung nicht, die das Gespräch genommen hatte.
»Sie meinen also, dass die Sorglosigkeit der Grönländer bloß ein Mythos ist?«, fragte er in skeptischem Tonfall. »In Wahrheit ist dieses Naturvolk also verdorbener als der übelste Schuft der Großstadt?«
Mørk schüttelte den Kopf.
»Sie missverstehen mich. So wie Sie in Ihren Gemälden bin ich der Ansicht, dass die Grönländer von lichtem und heiterem Gemüt sind. Aber sie haben auch eine andere Seite. Wissen Sie etwas über ihre Religion, Rasmussen?«
Carl verneinte.
»Ich wusste nicht, dass sie noch eine andere Religion haben, außer der, die unsere Pastoren sie gelehrt haben. Ihre sogenannte Geisterbeschwörerei ist ja wohl von eher zweifelhaftem Charakter.«
»Doch, sie haben durchaus eine Religion. Für einen Außenstehenden mag es vielleicht nur wie eine endlose Reihe von Befehlen und Verboten aussehen, die ebenso gut einem kranken Hirn entsprungen sein könnten. Aber es gibt durchaus Regeln für diesen Wahnsinn. Die Grönländer sind überzeugt, dass das Böse die stärkste Kraft des Daseins ist. Daher besteht ihre Religion überwiegend aus Beschwörungen, um das Böse im Zaum zu halten. Sie verhandeln und feilschen mit ihm. Sie opfern dem Bösen in der Hoffnung, es so neutralisieren zu können.«
»Eigentlich ist das gar nicht so merkwürdig, wenn man an die überwältigende
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