Rasputins Erbe
erinnerte sich an Balus Worte. Sie solle auf ihr Herz hören, hatte er gesagt. Sie müsse raus aus ihrer Komfortzone.
Julia stürzte sich ins Abenteuer.
Alexej und Julia schauten sich in die Augen und nachdem sie ihren Blick für ein paar Sekunden nicht voneinander lösten, erkannte der Barmann, dass seine Dienste vermutlich erst einmal nicht benötigt wurden.
Die wenigen anderen Gäste an der Bar guckten zwar schon ein wenig entnervt, aber Alexej Gromow war ein bekanntes Gesicht und ein willkommener Gast im Hotel.
Solche Leute konnten sich auch mal eine Extraportion Drama gönnen, dachte der erfahrene Barmann. In Wirklichkeit spekulierte er auf ein dickes Trinkgeld, wenn er dem Millionär seine Marotten durchgehen ließ.
Julia war gerade dabei, sich in Alexejs stahlblauen Augen zu verlieren, als Alexejs leises Zischen sie zurück in die Wirklichkeit holte. Der arme Kerl leidet scheinbar wirklich, dachte Julia.
Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er, die Hand vorsichtig zu schließen und wieder zu öffnen. Es tat weh, aber das Eis hatte schon nach wenigen Minuten seinen Zweck erfüllt. Die Schwellung war nicht weiter gewachsen – noch ein paar Vodka und der stämmige Russe würde wieder ganz der Alte sein.
Genau das jedoch machte Julia Angst, denn in seinem kurzen Moment der Schwäche war er wie verwandelt und so gefiel er ihr eindeutig besser. Er war freundlicher, offener, herzlicher. Befreit, dachte Julia. Aber wovon?
Sie bemerkte den Ring, der immer noch auf der Theke lag und für die nächste Stunde mit Sicherheit nicht auf Alexejs Finger passen würde.
Julia erinnerte sich an das Desaster, als sie Alexej beim letzten Mal auf den Ring angesprochen hatte, aber diesmal hatte sie ein gutes Gefühl, als sie ihn erneut nach der Herkunft des Schmuckstücks fragte.
„Ah, ja, der Ring“, sagte Alexej und schaute ebenfalls auf das goldene Erbstück. „Den habe ich von meinem Onkel bekommen. Nach seinem Tod.“
„Darf ich?“, fragte sie und zeigte auf den Ring. Alexej nickte langsam und Julia war froh, dass er nicht wieder ausrastete, aber sie musste ihm dennoch alle Einzelheiten aus der Nase ziehen: „Das ist aber ungewöhnlich, oder? Dass jemand seinem Neffen einen Ring vererbt?“
Julia drehte den Ring zwischen ihren Fingern und bemerkte eine Gravur auf der Innenseite des schmalen goldenen Bandes. Es war offenbar Russisch. Sie konnte es nicht lesen.
Alexej schaute sie schweigend an, während er sich wieder seinen Stretching-Übungen widmete und die Hand langsam schloss und wieder öffnete. Es schien von Minute zu Minute besser zu funktionieren. Julia war erleichtert, dass sie ihm die Hand nicht gebrochen hatte. Sie war immerhin nicht bloß hinter ihm her, sondern auch hinter dem Werbedeal.
Hätte sie Alexej durch ihren wütenden Tunnelblick und ihre Unachtsamkeit ins Krankenhaus befördert, könnte sie am Montag vermutlich ihr Büro räumen.
Alexej erklärte: „Ich habe mich auch gewundert. Es ist ein komisches Ding, aber irgendwie gefällt er mir.“
Sie schwiegen wieder. Hatten sie sich nichts zu sagen oder trauten sie sich einfach nicht, das auszusprechen, was sie dachten?
„Ich...“, begannen sie gleichzeitig. Und dann, wieder synchron: „Ähm, du zuerst...“ - sie lachten plötzlich so laut, dass der Barmann einen Teil des Drinks, den er einem Gentleman am anderen Ende der Theke einschenkte, großzügig daneben schüttete. Von ihm würde er sicherlich kein Trinkgeld bekommen.
Das Eis war endgültig gebrochen und so hangelten sich Julia und Alexej von einem Thema zum nächsten. Endlich unterhielten sie sich. Ohne peinliche Pausen. Ohne eine Annabelle, die alles zunichte machte.
Mittlerweile tranken sie beide Vodka. Julia dachte sich, dass es gut wäre, wenn sie sich an den Geschmack gewöhnen würde. Sie alberten herum und schwelgten in Anekdoten aus ihren so verschiedenen Leben.
Aber sie redeten auch über das gemeinsame Projekt und Julia war froh, dass Alexej offenbar tatsächlich nicht bloß auf Sex aus war. Ihr war es wichtig, sich in dieser Sache zu behaupten. Sie wollte Peer beweisen, dass sie fähig war, professionell zu handeln. Sie wollte nicht als dummes Küken dastehen. Sie war erwachsen geworden und jeder sollte es sehen. Vor allem eben Peer.
„Deniz – das ist unser Grafiker – und ich haben uns schon einige Gedanken zur Kampagne gemacht. Da sind tolle Ideen entstanden. Wir dachten schon, wir könnten die Entwürfe alle in die Mülltonne treten“, lachte
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