Rasputins Erbe
gehabt hatte, war ihr plötzlich nicht mehr nach einer winterlichen Betthüpfer-Olympiade. Sie wollte mehr als das. Und dafür musste sie ihre Komfortzone verlassen, wie Balu richtig erkannt hatte.
Hinzu kam ein stimulierendes Gefühl von Ehrgeiz, das in ihr aufkeimte. Sie wollte nicht bloß ihren inneren Schweinehund besiegen. Sie wollte außerdem endlich den Auftrag an Land ziehen.
Das Intermezzo mit Balu hatte sie reifer gemacht, vielleicht sogar erwachsener. Mit Sicherheit jedoch war sie an sich selbst gewachsen. Julia fühlte sich gut und schaute dem nächsten Tag mit einem guten Gefühl entgegen. Annabelle hatte sie bereits wieder verdrängt.
Sie würde das Kind schon schaukeln, dachte sie, als sie den Aufzug zum Büro bestieg und sich im Spiegel des blitzblanken Lifts begutachtete. Sie fühlte sich sogar größer, obwohl sie wusste, dass sie sich das bloß einbildete.
Ja, sie würde das Kind schon schaukeln.
Kapitel 9 – Der Ring
Als Julia am nächsten Tag aufwachte, war ihr flau im Magen. Sie war zwar vor Selbstbewusstsein nur so strotzend ins Bett gegangen, aber als ihr bewusst wurde, dass das absurde Abenteuer, das sie ihr Leben nannte, kein Spiel, sondern knallharte Realität war, wollte sie am liebsten wieder unter die warme Bettdecke kriechen.
Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass Petrus nun endgültig den Verstand verloren hatte. Es schneite nicht, dafür regnete es in Strömen. Außerdem stürmte es und sie beobachtete emotionslos, wie das Windspiel, das sie an ihrem überdachten Balkon angebracht hatte, abriss und im Chaos verschwand. „Scheiß drauf“, dachte sie. Das Ding hatte sie ohnehin nie gemocht und sie fand es bezeichnend, dass an diesem Tag eines der letzten übrig gebliebenen Artefakte aus ihrer vorigen Beziehung wie durch Zauberei verschwunden war.
Das Windspiel war nämlich ein Geschenk von Thomas' ultra-spießigen Eltern und sie hatte es bloß aus Höflichkeit aufgehangen.
Julia sprang unter die Dusche und verfluchte beim Einschalten des grellen Lichts wieder einmal die faulen Säcke, die sich Handwerker schimpften, weil sie auch nach dem dritten Anruf immer noch nicht ihren Arsch herbei bewegt hatten.
Während der vorige Tag glanzvoll geendet hatte, entpuppte sich dieser als das komplette Gegenteil.
Julia spielte sogar mit dem Gedanken, das Date (war es ein Date?) beziehungsweise das Meeting (war es wirklich nur ein Meeting?) sausen zu lassen. Warum ließ sie sich eigentlich so herumschubsen, fragte sie sich schlecht gelaunt. Auch ihr Spiegelbild gefiel ihr an jenem nicht.
Julia fand erst wieder zu ihrer hervorragenden Form vom Vortag zurück, als sie endlich versuchte, herauszufinden, warum Balu ihr nach dem gemeinsamen Abenteuer Salbei-Tee mitgegeben hatte.
Nachdem sie nämlich ihren Morgenkaffee mit aufs Sofa genommen hatte, durchforstete sie das Internet nach dem Nutzen des unscheinbaren Geschenks. Sie ging stark davon aus, dass das Geschenk eine Art Symbol war, denn Balu liebte diese Art von Kommunikation.
Der Kaffee trug seinen Teil dazu bei, dass sich ihre Laune besserte, aber ausschlaggebend war die plötzliche Erkenntnis, die sich ergab, als sie in einem Heilpflanzenforum angelangt war.
Da stand, dass Salbei-Tee sowohl innerlich als auch äußerlich wirken würde. Julia wusste, dass Salbei gegen Husten, Heiserkeit und andere Halsbeschwerden half. Was sie nicht wusste war, dass Salbei-Tee als Fußbad genutzt werden konnte, um Schweißfüße zu bekämpfen.
Sie lachte herzhaft und der Fluch war fürs Erste gebrochen. Balu war schon ein komischer Typ, dachte sie. Ihr fiel auf, dass sie sich nicht mehr schämte, sondern sich ehrlich über sein gut gemeintes Präsent freute.
So sehr sogar, dass sie es sofort ausprobierte. Sie nahm eine der vielen Schüsseln, die sie ohnehin nie zum Kochen benutzte und füllte sie mit heißem Wasser.
Julia wollte gar nicht mehr aufstehen, als sie erst einmal ihre Füße im Salbeisud eingeweicht hatte. Allerdings wurde sie nach knapp einer Viertelstunde gestört, ihr Handy klingelte. Es lag noch auf dem Küchentisch, wie Julia seufzend feststellte.
Sie stand also auf und watschelte schnell zum schrillenden Telefon. Das Display blinkte ebenfalls und Julia sah, wer ihr da an ihrem heiligen Samstag auf die Nerven ging: Peer. Julia stellte das Handy stumm und ignorierte ihren Chef. Sie dachte: „So weit kommt's noch.“
Sie wusste in dem Moment nicht, wer eigentlich der schlimmere Stalker war: Peer oder Annabelle. Ihr fiel ein,
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