Rasputins Erbe
nicht. Carl fuhr fort: „Damals – und es ist wirklich noch nicht lange her – haben Sie mir erzählt, wie langweilig Sie ihr Leben finden. Sie haben sich leer gefühlt. Sie wollten ein Abenteuer erleben. Sie haben sich nach 'Action' gesehnt, nicht wahr?“
Carl deutete Anführungszeichen an, als er das neumodische Wort widerwillig aussprach. Er hatte Julias eigene Worte benutzt. Julia verstand nun.
Sie selbst hatte sich ein Abenteuer gewünscht. Sie erinnerte sich, dass sie damals alles für ein bisschen Action getan hätte. Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen.
„Aber um welchen Preis“, murmelte Julia und Carl hob die Augenbrauen. Er sah, wie die Zahnrädchen in Julias Dickkopf arbeiteten.
Julia sprach weiter: „Aber das alles wollte ich nicht. Ich will diesen Stress nicht. Wenn ein Abenteuer so aussieht, dann will ich keins.“
Carl knüpfte an: „Was genau wollen Sie denn? Sie haben mir erzählt, dass Sie diesen Mann, diesen Alexej, unerhört attraktiv finden. Damals haben Sie mir jedoch erzählt, dass das genau nach ihrem Wunsch wäre. Eine Affäre ohne tiefere Emotionen. Ich glaube, so hatten sie es formuliert. Haben Sie nicht genau das bekommen, was sie wollten?“
„Nein, ich -“, begann Julia, aber die restlichen Worte blieben ihr im Mund stecken. Es gab keine Entschuldigung, keine Ausrede.
Julia realisierte, dass ihre Gefühle für Alexej mehr waren als bloß Schmetterlinge im Bauch. Sie wollte mit ihm zusammen sein. Sie spürte, dass er tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, dass er nichts mit ihrem schmerzenden Brandmal zu tun hatte, dass er selbst nicht wusste, was im Keller passiert war.
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte Julia.
Carl gab ein fast unsichtbares Lächeln Preis. Er antwortete jedoch nicht sofort. Er wählte seine Worte so, dass Julia ihn nicht missverstehen konnte: „Das, Frau Steinkamp, müssen Sie selbst wissen. Und ich habe die Vermutung, dass Sie es bereits wissen. Da Sie jedoch seit Monaten – oder vielleicht sogar seit Jahren – geglaubt haben, dass Sie nicht der Typ für eine feste Beziehung sind, für ein geregeltes Leben, für ein stressfreies Leben, werden Sie noch einige Zeit brauchen, um sich an ihren Sinneswandel zu gewöhnen. In erster Linie brauchen Sie dringend Ruhe. Ihr Zusammenbruch ist ein klares Signal. Ihr Körper ist am Ende. Und wenn man überlegt, durch welche Torturen Sie ihn in letzter Zeit geschickt haben, ist das nicht allzu abwegig, nicht wahr?“
Julia wusste, dass er auf ihre Sadomaso-Experimente anspielte und sie wurde rot. Es war ihr nicht wirklich peinlich, denn sie vertraute Carl, aber trotzdem fühlte sie sich nicht ganz wohl dabei, ihre tiefsten Geheimnisse vor einem wildfremden Mann auszuplaudern. Sie überlegte, dass es vermutlich nicht an ihrem Gegenüber lag, sondern daran, dass sie sich vor sich selbst ein wenig schämte.
All die Jahre hatte sie sich eingeredet, dass sie möglichst dreckigen, harten, unverbindlichen Sex wollte. Aber im Verlaufe dieser spontanen Sitzung bei Carl Gustavsson, dem antiquierten Psychologen aus Schweden, wurde ihr bewusst, dass sie nicht anders als all die Prinzessinnen war, die sie in ihrer Pubertät von oben herab ausgelacht hatte.
Auch sie hatte insgeheim die große Liebe finden wollen. Die absurde Beziehung mit Thomas war ein Indiz dafür, dass ihr Unterbewusstsein schon länger den Wunsch nach einer normalen Partnerschaft hegte.
Julia hakte noch einmal nach: „Was würden Sie mir denn in meiner Situation raten?“
„Da Sie jetzt ohnehin keine Beschäftigung haben, sollten Sie endlich Urlaub machen. Buchen Sie einen Flug, nehmen Sie ihre Freundin mit. Oder besuchen Sie Ihre Mutter. Falls ich mich richtig erinnere, haben Sie sich doch dort stets wohl gefühlt, nicht wahr?“, antwortete Carl freundlich.
Julia fand die Idee gut. Sie hatte ihre Mutter ohnehin schon einige Zeit nicht mehr gesehen. Sie erinnerte sich daran, dass sie Julia sogar für die Weihnachtszeit eingeladen hatte. Irgendwo in dem Chaos auf ihrem Schreibtisch im Büro musste die Postkarte verloren gegangen sein. „Ja, ich glaube, das mache ich“, bestätigte Julia und Carl nickte zufrieden.
Er dachte über seine Patientin nach und hoffte inständig, dass sie sich nicht wieder in ein unfreiwilliges und im Zweifel gefährliches Abenteuer verstricken würde. Aber er sagte nichts dazu. Seine Devise war einfach. Jeder Mensch musste seine eigenen Erfahrungen machen. Auch dann, wenn diese Erfahrungen schmerzhaft
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