Rasputins Erbe
Mischling sprang heraus und wedelte überglücklich mit dem Schwanz. Julia grinste und meinte: „Vor allem ist er groß, oder?“
„Ja, du weißt doch, wie gefährlich es draußen geworden ist. Ich dachte, dass sich die Spinner beim Anblick dieses Prachtexemplars nicht so schnell an mich heranwagen. In letzter Zeit hatte ich manchmal Angst, wenn ich joggen war“, erzählte sie und streichelte ihren haarigen Bodyguard.
„Wie heißt er denn?“, erkundigte sich Julia und tätschelte den monströsen Kopf des verspielten Hundes.
„Luke“, meinte ihre Mutter stolz. Natürlich, dachte Julia. Ihr erster Hund hatte den gleichen Namen gehabt und sogar eine der Katzen, die ihnen damals, als Julia noch ein Kind gewesen war, zugelaufen ist. Julias Mutter hatte ein Faible für die alten Star Wars Filme und vor allem Luke Skywalker hatte es ihr damals angetan. Der Bann war offensichtlich immer noch nicht gebrochen, wie Julia amüsiert feststellte.
Während der Fahrt schnupperte, leckte und knabberte der Hund, der offenbar noch lange nicht ausgewachsen war, an Julias Haaren und sie war froh, dass die Fahrt bloß wenige Minuten dauerte. Ihre Mutter hatte das Radio aufgedreht, es lief die Art von Punkrock, die Julia so sehr hasste.
Aber auch diese Marotte übersah Julia gnädig, denn sie wollte nicht schon am ersten Tag ihres Besuchs einen Streit vom Zaun brechen.
Eine knappe halbe Stunde später hatte Julia ihr Gepäck auf das Bett in ihrem alten Zimmer geworfen. Sie schaute sich darin um – das letzte Mal war sie vor fast einem halben Jahr dort oben gewesen, wie sie überrascht feststellte.
„Juuuuliiiaaa!“, rief ihre Mutter. Julia hoffte, dass es vorerst nicht noch mehr Überraschungen zu bestaunen gab. Sie ging herunter ins Wohnzimmer und fand einen gedeckten Tisch vor. Sie lächelte. Ihre Mutter strahlte. Julia umarmte sie und musste sich zusammenreißen, um nicht gleich wieder loszuheulen. Ja, es ist die richtige Entscheidung gewesen, aufs Land zu fahren, dachte sie gerührt.
„So, jetzt erzähl mal! Gestern am Telefon habe ich ja fast nichts aus dir herausbekommen. Wie läufts im Büro?“, wollte ihre Mutter wissen, als sie sich an den Tisch gesetzt hatten.
Julia stopfte sich schnell das viel zu große Stück Kartoffel in den Mund, um nicht sofort antworten zu müssen. Ihre Mutter hatte ordentlich aufgetischt. Es gab Salzkartoffeln, Geschnetzeltes aus Tofu und einen würzigen Bauernsalat.
„Ich wurde gefeuert“, antwortete Julia mit vollem Mund, nachdem ihr klargeworden war, dass sie ihrer Mutter die traurige Wahrheit in den nächsten zwei Wochen ohnehin nicht vorenthalten konnte.
„Wie bitte?“, stieß ihre Mutter schockiert hervor und riss die Augen auf.
Julia erzählte also, was vorgefallen war. Sie hatte mit so einer Reaktion gerechnet und hoffte inständig, dass das Gespräch nicht in einer Diskussion über die Rechte der Frauen enden würde.
„Ich habs dir ja gleich gesagt. Diese Machos haben bestimmt nur nach einem Grund gesucht, um dich wieder loszuwerden“, regte sich ihre Mutter auf.
Julia hingegen hatte es satt, sich ständig aufzuregen. Sie zuckte mit den Schultern und meinte: „Mama, lass uns jetzt nicht weiter davon sprechen, okay? Das wird sich bestimmt noch klären.“
Sie wunderte sich wieder einmal über sich selbst, denn in Wirklichkeit löste der Verlust ihres Jobs Panik in ihr aus.
In der Gegenwart ihrer misstrauischen Mutter, die ihrerseits ständig nach Gründen suchte, um die Männerwelt schlecht zu machen, fühlte sie sich stark und selbstbewusst.
Außerdem wusste Julia, dass Peer tatsächlich einen triftigen Grund hatte, um sie zu entlassen. Die ganze Geschichte mit Alexej, das ständige Hin und Her – das war mehr als unprofessionell gewesen.
Sie verbrachten das Abendessen friedlich und unterhielten sich über eine der aktuellen Talentshows, die im Fernsehen heiß diskutiert wurden.
Julia war froh, dass sie das Gespräch in ruhigere Gewässer hatte steuern können. Sie wusste nur zu gut, dass Stress Gift für sie war. Sie wollte sich entspannen.
Julia hatte sich geschworen, dass sie ihre Probleme zumindest für den Zeitraum von knapp zwei Wochen in der Stadt lassen würde.
Nach dem Essen wollte Julia nur noch ins Bett. Ihre Mutter verstand das. Sie spürte, dass ihre Tochter etwas auf dem Herzen hatte. Sie würde ihr in den nächsten Tagen mal auf den Zahn fühlen, nahm sie sich vor und verabschiedete Julia ganz klassisch mit einem Gutenachtkuss auf die Stirn.
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