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Rasputins Erbe

Rasputins Erbe

Titel: Rasputins Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norah Wilde
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klassischen Psychologie, der ursprünglichen Seelenheilkunde.
    Doktor Gustavsson drehte sich um und hob milde überrascht die Augenbrauen. In der Hand hielt er eine Tasse Tee. Julia wusste, dass es sich um einen starken Friesentee handelte. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie man freiwillig Tee mit Rum trinken konnte, aber Carl begann fast jede ihrer Sitzungen mit diesem Ritual.
    Doktor Gustavsson begrüßte sie. Seine Stimme und seine gesamte Erscheinung waren kalt, aber Julia hatte gelernt, dass diese Fassade nicht die ganze Wahrheit widerspiegelte. In Wirklichkeit war Carl Gustavsson ein hervorragender Zuhörer. „Na, das ging ja schnell“, sagte er und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er fuhr fort: „Ich dachte schon, ich müsste heute Überstunden machen. Was kann ich für Sie tun? Ich nehme an, dass es wichtig ist?“
    Julia setzte sich aufrecht hin und strich ihre Haare glatt. Sie schaute auf ihre Uhr und sah, dass sie bloß eine Dreiviertelstunde ohnmächtig gewesen war.
    „Entschuldigen Sie bitte. Ich, ähm, weiß nicht, was mit mir los ist. Was ist denn überhaupt passiert? Ich meine, wie bin ich hierher gekommen?“, fragte Julia. Langsam kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück. Sie hatte leichte Kopfschmerzen und sie fühlte sich sehr müde.
    „Tja, das werden wir hoffentlich gleich herausfinden, nicht wahr? Sie sind jedenfalls im Vorraum zusammengebrochen und geradewegs in die Arme meiner Sekretärin gefallen. Ich und mein voriger Patient haben Sie dann hier auf die Couch gelegt. Es war eine interessante Situation, aber ich darf Ihnen leider nichts über das Leiden meines Patienten verraten. Sonst wüssten Sie, was ich meine“, antwortete Doktor Gustavsson und nippte an seinem dampfenden Tee.
    Julia schwieg und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Sie griff nach dem Wasserglas, das neben dem Sofa auf einem kleinen Tisch stand und trank mit gierigen Schlucken. Ja, jetzt erinnerte sie sich, dachte sie. Sie sah das ängstliche Gesicht der Sekretärin vor sich, dann war Stille gewesen.
    „Ich habe gespürt, dass es wieder passieren würde. Also bin ich so schnell wie möglich hergekommen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Es tut mir leid, dass -“, begann Julia kleinlaut zu erklären, denn ihr war der Auftritt ziemlich peinlich.
    „Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen. Sie glauben gar nicht, wie oft so etwas in meinem Beruf vorkommt“, erwiderte der betagte Psychologe. Julia konnte sich nicht vorstellen, dass anderen Menschen auch so etwas Bescheuertes passieren konnte, aber sie nickte.
    Carl Gustavsson fuhr fort: „Obwohl ich Sie leider schon lange nicht mehr in meiner Praxis begrüßen durfte, kann ich mich doch gut an ihr damaliges Problem erinnern. Was denken Sie? Was ist da vorhin passiert?“
    Julia runzelte die Stirn. War es nicht seine Aufgabe, das zu wissen und ihr zu erklären?
    „Ich hatte einen Nervenzusammenbruch, glaube ich“, sagte sie unsicher.
    „Allerdings“, meinte ihr Gegenüber. Dann schwieg er und fixierte Julia. Sie hatte das Gefühl, dass er sie mit seinem Blick röntgte, aber komischerweise machte ihr das bei diesem Mann überhaupt nichts aus. Im Gegenteil. Es gab ihr ein gutes Gefühl, wenn sie sich mit Doktor Gustavsson unterhalten konnte. Sie vertraute ihm.
    Er verurteilte sie nicht für ihr chaotisches Leben. Er hatte sie auch damals nicht verurteilt, obwohl sie stets wusste, dass er persönlich nichts von ihrer Einstellung gegenüber einer Liebesbeziehung hielt. Carl war immer professionell, er trennte seinen Beruf und sein Privatleben rigoros und Julia war ihm dankbar dafür.
    Sie erinnerte sich, dass es zu seinen Methoden gehörte, dem Patienten möglichst viel Freiraum zu lassen. Er leitete die Gespräche nicht wirklich, er gab ihnen lediglich den einen oder anderen Schubs in die richtige Richtung.
    Er schwieg immer noch und Julia wusste, dass sie sich Zeit lassen durfte. Solange der Mann mit seinem Friesentee beschäftigt war, kannte er keine Eile.
    Julia schaute sich in dem vertrauten Raum um. Der altmodische Schreibtisch, hinter dem ihr Psychologe thronte, war perfekt aufgeräumt. Die Bücherregale schienen noch voller geworden zu sein. Lediglich ein Regal enthielt Fachliteratur, die restlichen Regale waren mit Belletristik gefüllt.
    Klassische Literatur, alte Gedichtbände, diverse Bibeln, ein Koran - Bücher also, für die Julia sich nie Zeit genommen hatte und von denen sie nicht viel verstand. Schon während des Abiturs hatte sie

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