Rasputins Erbe
äußerlich ruhig wirkte, rumorte es tief in ihrem Innern. Sie selbst spürte bloß die zwickende Wunde am Bauch, nicht jedoch die Verzweiflung, die Leere, die sich ihren Weg unbarmherzig nach oben, in ihr vom Schock betäubtes Bewusstsein, bahnte.
Sie nickte auch dem Wachmann vor dem Lift zu und trat hinaus auf Kölns matschige Straßen. Es war Zeit für ihren Kaffee und ihre Beine trugen sie ohne ihr Zutun zu ihrem Lieblings-Kiosk um die Ecke.
Der Kaffee war heißer als sonst und Julia verbrannte sich fast die Zunge, als sie gedankenverloren daran nippen wollte.
Sie steckte den Becher kurzerhand in einen der wenigen intakten Schneehaufen und wartete einen Moment. Sie kramte ihr Handy hervor und stellte überrascht fest, dass Verena sie mindestens zwanzig Mal angeklingelt hatte.
Julia nahm also ihren mittlerweile ausreichend abgekühlten Kaffee in die eine Hand und wählte mit der anderen Verenas Kurzwahlnummer, um der Sache auf den Grund zu gehen.
„Na endlich! Ich versuche schon seit zwei Stunden dich zu erreichen. Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist“, rief Verena aufgeregt.
Julia jedoch ließ das kalt. Sie wollte nichts von Verenas kindischen Eskapaden hören, sie wollte lediglich einen Teil ihrer Last bei ihrer Freundin abladen. Sie wusste, wie egoistisch das war, aber Verena würde es verstehen.
„Verena, ich habe dafür jetzt keinen Kopf, okay?“, erwiderte sie teilnahmslos und schlürfte ihren Kaffee weiter.
Verena ließ sich nicht ausbremsen: „Julia, du musst dir das anhören. Ich habe heute -“
Weiter kam sie jedoch nicht. „Ich wurde gerade gefeuert“, verkündete Julia laut und scheinbar gleichgültig. In ihr brodelte es, aber sie ließ das vernichtende Gefühl nicht an die Oberfläche gelangen. Und sie ließ sich auch nichts anmerken. Jeder Hinweis von außen hätte die Fassade, die Julia mit äußerster mentaler Anstrengung aufrecht erhielt, niederreißen können.
„Wie bitte?“, sagte Verena verdattert. Sie hatte Julia von ihren Erkenntnissen in punkto Annabelle berichten wollen, aber sie hielt es jetzt für besser, wenn sie ihre beste Freundin damit nicht auch noch belastete.
„Jep, Peer hat mich rausgeworfen. Wir haben den Auftrag wieder verloren. Deniz weiß es vermutlich noch gar nicht“, meinte Julia und bog in die richtige Seitenstraße ein. Sie konnte nicht noch länger warten. Das Gefühl, das sie bisher erfolgreich in den Hintergrund gedrängt hatte, bahnte sich seinen Weg in ihr Bewusstsein.
Verena wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie versuchte es mit einem Scherz: „Naja, wenigstens brauchst du dich jetzt nicht mehr mit dem verrückten Russen rumzuärgern!“
Julia lachte nicht. Sie hörte gar nicht richtig hin. Sie schlürfte ihren Kaffee und beschleunigte ihren Schritt. Das letzte Mal, als sie sich so komisch gefühlt hatte, war sie zusammengebrochen. Damals war die Trennung von Thomas der Auslöser gewesen.
„Verena, ich kann jetzt nicht weiterreden. Ich muss noch etwas erledigen, ich rufe dich später an, okay?“
Julia wartete die Antwort nicht ab, sondern drückte Verena einfach weg. Sie atmete noch einmal tief ein und spürte, wie die kalte, klare Luft in ihre Lungen strömte. Dann klingelte sie. Sie drückte den Knopf im Stakkato, bis sich endlich jemand meldete: „Ja? Doktor Gustavsson ist momentan in einer Sitzung. Haben Sie einen Termin?“
„Ja“, log Julia und presste ihre Hand bereits ungeduldig gegen den Türknauf und wartete darauf, dass das altmodische Summen ertönte und das Schloss freigab.
Die Sekunden, die vergingen, bis die Tür sich öffnete, kamen Julia wie eine Ewigkeit vor. Sie eilte die alte Steintreppe hinauf und betrat die Praxis. Auf der Schwelle wurde ihr schwindelig und sie fiel Doktor Gustavsson's Sekretärin geradewegs in die Arme.
Julia hatte das Bewusstsein verloren.
Kapitel 19 – Alter Schwede
Julia blinzelte. Das erste, was sie sah, war der Rücken eines riesigen Mannes. Sie erkannte diese Statur: es war Carl Gustavsson, ihr Psychologe. Julia war kein Dauerpatient, aber der große Typ mit der Glatze und der altmodischen Nickelbrille hatte ihr nach ihrer Beziehung zu Thomas sehr geholfen.
Sie richtete sich benommen auf. Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie mit Verena telefoniert hatte. Dann war sie dort auf der Couch in Carl’s Praxis aufgewacht. Die Couch war eher Dekoration denn Werkzeug. Obwohl Carl Gustavsson die Psychoanalyse nach Freud schätzte, war er selbst eher ein Vertreter der
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