Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
wenigen Tagen vor Kraft strotzte,
war nur noch ein trauriges Abbild seiner selbst.
Martin empfand
das Zimmer als trostlos, und es wäre für ihn selbst keine Umgebung gewesen, in der
er hätte gesund werden und erst recht nicht hätte sterben wollen. Auch das Kruzifix
an der Wand tröstete ihn wenig, im Gegenteil, es schürte nur noch mehr seinen Zorn
auf die Willkür des Lebens und dessen Erfinder, der dem einen, einem Gauner und
Betrüger, strahlend und putzmunter, ein langes und gesundes Leben bescherte und
den anderen, den rechtschaffenen und ehrlichen, der nie einen Cent dem Finanzamt
vorenthalten hätte, frühzeitig hinwegraffte.
Vor dem
Zimmerfenster erblickte Martin einen Baum. Eine Buche oder Eiche, die all ihrer
Blätter entledigt war und wie ein Gerippe dastand. Ein altes Klinikgebäude dahinter,
das dringend einen neuen Anstrich hätte vertragen können, und eine moosige Wiese,
auf der schmutzige Schneereste lagen.
Martin wendete
sich Lorenz zu, der sich nach Leibeskräften bemühte zu sprechen. Es dauerte eine
Weile, und Martin und Werner standen regungslos da. Sie warteten auf die Worte,
die, unvollkommen und gestammelt, dem schiefen Mund ihres Vorgesetzten entwichen
wie bei einem Kind, das erst die Entdeckung der Sprache machte.
»Hallo …
Jungs. … Schön, dass … ihr mich … besuchen … kommt. Wie geht es … euch?«
Martin verstand
die Welt nicht mehr. Der, der dort saß und allem Anschein nach das Leid der gesamten
Welt in sich vereinigte, fragte ihn , wie es ihm ginge. Er würde dies in genau
derselben Situation vermutlich nie tun. Er würde sich in seinem Selbstmitleid suhlen,
verzweifeln und sich einen Scheißdreck für das Wohl eines anderen interessieren.
»Danke, Chef. Es geht wieder. Die Grippe ist so gut wie weg.« Martin verzerrte das
Gesicht, als ihm auffiel, dass er kaum dämlichere Worte hätte finden können.
Lorenz setzte
von Neuem an. »Was … macht der … Fall?« Mit einiger Mühe verstanden Martin und Werner
Lorenz’ Gestammel.
»Wir kommen
gut voran, Chef.« Martin überlegte kurz, wie er ihn anreden sollte, da Schöller
in Lorenz’ Büro auf Lorenz’ Stuhl an Lorenz’ Schreibtisch saß. Nein, Lorenz war über 20 Jahre sein Chef gewesen, hatte ihm alles von der Pike auf beigebracht und
sollte nun, wegen eines dummen Herzinfarktes und eines unlängst noch hinzugekommenen
Schlaganfalls nicht mehr sein Chef sein? Chef ist ein Titel , dachte Martin, so wie Doktor oder Professor. Dieser Titel steht Lorenz zu, Schöller hin oder
her. Er würde Schöller erst dann von ganzem Herzen Chef nennen, wenn er sich
diesen Titel verdient hatte. Also beschloss Martin, weiterhin Chef zu Lorenz zu
sagen, und hoffte, ihn damit seine Loyalität spüren zu lassen.
»Schöller,
die Pfeife, hat Ihr Büro aufgeräumt und alle Akten zu dem Fall gescannt, katalogisiert
und das Ganze mit einem Passwort versiegelt. Wie gut, dass ich das meiste noch bei
mir zu Hause habe.« Martin machte eine kleine Pause und wollte an der Reaktion von
Lorenz ausmachen, ob er, wenn er schon nicht mehr richtig sprechen, wenigstens noch
alles verstehen konnte. Lorenz nickte und ließ Martin nicht aus den Augen.
So fuhr
Martin fort: »Werner hat gestern eigenartige Andeutungen gemacht. Sie hätten etwas
zu ihm gesagt, was er jedoch nicht genau verstanden hat. Es ging um Schöller.«
Lorenz rutschte
in seinem Rollstuhl hin und her und versuchte, sich mit dem rechten Arm auf der
Lehne abzustützen. Man merkte ihm an, wie viel Mühe ihm diese Hilflosigkeit bereitete.
Werner stellte sich kurzerhand hinter Lorenz und griff ihm mit beiden Händen unter
die Achseln, zog ihn ein wenig hoch und bescherte ihm eine angenehmere Sitzposition.
Martin kam sich in diesem Moment neben Werner winzig vor. Diese mühelos verrichtete
Hilfeleistung hätte Martin eine Kraft gekostet, die er nicht besaß. Er wollte keinen
Körper mehr umfassen, dessen Tage, Minuten oder Sekunden gezählt waren.
Lorenz musste
mit seinen Worten haushalten und fasste sich kurz. »Schöller … hat … Unterlagen
… ver…« Weiter kam er nicht mehr und räusperte sich. »Ihr habt … mächtige Leute
… gegen euch. Seid vorsichtig!«, krächzte Lorenz und betrachtete die beiden Beamten,
die im Vergleich zu ihm wie jugendliche Spunde wirkten. Lorenz hielt einen Knopf,
der rechts neben seinem Stuhl befestigt war, gedrückt und in weniger als einer Minute
eilte eine Schwester herbei. Ihr geschulter Blick galt als Erstes dem Monitor, der
das kardiale
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