Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
gehalten hatte, oder lag es an den Themen selbst, die ihn aufregten. Er
war evangelisch getauft und gottlos in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem das
einzig Anzubetende der Kontostand am Monatsende war. Martin hielt es für das Beste,
vor seiner Abreise nach Ecuador die kirchlichen Brücken, die er eh nie begangen
hatte, abzureißen. Es war eine reine Formsache, aus der Kirche auszutreten, und
die Dame, die seinerzeit das Formular mit stoischer Gelassenheit entgegennahm, schien
keinerlei Bemühungen an den Tag legen zu wollen, ein verlorenes Schaf zur Umkehr
zu bewegen. Nach diesem Schritt fühlte er sich nicht schlechter als vorher, nicht
verlorener, schuldiger oder sündiger. Er hatte eine Institution verlassen, die von
seinem monatlichen Einkommen einen stattlichen Obolus abzweigte, um Dinge damit
zu tun, von denen er nichts verstand, von denen er nicht einmal erfuhr.
Martin öffnete
die Augen und sah aus dem Fenster. Es begann zu schneien. Würde dieser Expriester
ihn nach seiner Konfession fragen? Würde er ihn auf seinen nicht vorhandenen Glauben
ansprechen? Er hoffte nicht, er hätte nicht gewusst, was er ihm erwidern sollte.
Zugegebenermaßen spukten seit zwei Jahren viele Fragen in seinem Kopf herum. Dinge,
die ihn früher nicht interessierten, zu einer Zeit, als alles noch rundlief. Kuschelig
warm eingebettet in einer wohlgeordneten bürgerlichen Existenz an der Seite von
Sabine. Doch seit ihrem Tod war alles anders geworden. Er meinte, sich verändert
zu haben, während die Welt um ihn herum schlecht geblieben war. Er hatte eigentlich
keine Lust, sich diese Fragen ständig anzuhören, die jemand in ihm stellte. Es schien,
als sei er nicht allein in seinem Ich, als gäbe es da noch einen zweiten Martin,
der ihn nervte. Ständig dieses: Warum passiert dies oder jenes bei dem oder der
und nicht bei einem anderen . Fragen, die kein Mensch auf dieser Welt beantworten
konnte, außer diesem Priester, der meinte, er hätte die Wahrheit – wie man sagte
– mit Löffeln gefressen.
Martin ertastete
den Flyer und zog ihn hervor. Er betätigte die Hydraulik an der unteren Seite des
Sitzes, die seinen Körper schnurrend in eine aufrechte Haltung brachte.
»Na? Ausgeschlafen?«,
foppte ihn Werner.
»Hast du
gewusst, dass man es ohne Mühe, ohne Kummer und Leid und mit einem ewigen Grinsen
im Gesicht bis zur Urne schaffen kann?«
Werner lachte
auf. Er meinte nicht, auf diese Frage ernsthaft antworten zu müssen, und wartete,
bis Martin das Rätsel selbst auflösen würde.
»Hast du
dir mal die Themen hier drin angesehen?« Martin hielt Werner während der Fahrt den
Flyer vors Gesicht. Werner versuchte, die Straße im Blick zu behalten und gleichzeitig
den Flyer zu betrachten.
»Okay, ich
lese dir was daraus vor. Für den Fall, dass du Bedarf hast, kannst du ihn gleich
darauf ansprechen. Sparst die Seminarkosten.«
»Nun lies
schon, du alter Zyniker.«
Martin schlug
die drei Seiten des Leporellos auf und begann bei der Überschrift: » Werden Sie
ein neuer Mensch mit Gottes Hilfe. Erleben Sie in diesen Einkehrtagen, wie aus Ihnen
ein neuer Mensch werden kann. Spüren Sie die heilmachende Berührung Gottes in Ihrem
Herzen .«
Dann folgten
die einzelnen Themen, die Martin vorlas. Er legte all seine Verachtung, seinen Spott
in seine Stimme und verbarg seine Verbitterung dabei nicht im Geringsten.
» Freude
in Zeiten des Leids, Trauerarbeit durch Vergebung verkürzen. Was ist Ihre Berufung?
Ist dies schon alles vor dem Tod? Das Leben nach dem Leben. Gibt es eine Ewigkeit?
Zu Hause ankommen und Frieden finden bei Gott . – Findest du das nicht ein bisschen
überheblich, sich über andere lustig zu machen, sich zu erheben und solche Themen
anzubieten? Ich möchte wissen, mit welchem Recht …«
»Nein, das
finde ich nicht«, entgegnete Werner. »Feldmann ist alles andere als überheblich.
Er ist nett, wirst sehen.«
»Au, Mann,
ich hab echt ein Problem mit diesem spirituellen Kram.«
»Hast du
mir nicht gestern erzählt, dass du eine Erleuchtung gehabt hast? Wieso bist du auf
einmal so kontra?«
»Ich weiß
es nicht, es macht mich nun mal aggressiv.«
»Ich sag
dir, warum. Weil du in den letzten zwei Jahren kein Stück weitergekommen bist. Weil
du dir immer noch nicht verziehen hast.«
Martin sah
auf und blickte auf die Straße, die vor ihnen lag. Ein gleichmäßiger weißer Teppich
bedeckte das Grau. »Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Manchmal hab ich das
Gefühl, ich hätte es gepackt. Dann bin
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