Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Werner
um und griff ihn unerwartet fest am Arm. »In diesen Mauern ist nichts mehr so, wie
es vor meiner Zeit in Ecuador war. Ich fühle mich nicht mehr wohl mit schleimigen
Maulwürfen in der Abteilung. Ab jetzt reden wir nur noch außerhalb des Präsidiums
über den Fall, und Schöller junior füttern wir mit belanglosem Zeug.« Pohlmann wedelte
mit den 23 Seiten des Fax. »Und hier fehlt die Hälfte. Frau Kassner sagte mir am
Telefon, dass sie mir 44 Seiten durchgeschoben hat. Das Wichtigste fehlt. Das weiß
ich, ohne dass ich mir den Mist ansehen muss, wetten?«
»Was haben
wir jetzt vor?«
»Ich würde
gern mal Lorenz besuchen. Kommst du mit?«
»Klar. Schöller
hat gesagt, ich soll dich unterstützen. Endlich komme ich aus dem Mief mal raus.«
Kapitel 36
Hamburg-Eppendorf, 10. November
2010
Die Gesundheit wird am ehesten geschätzt,
wenn sie nicht mehr da ist. Es ist wie mit vielem anderem im Leben: Man begehrt
das, was man nicht hat, und schätzt Dinge oder Umstände nicht mehr, nach denen man
sich früher gesehnt und an die man sich nun gewöhnt hat. So verhält es sich mit
der Gesundheit auch. Kaum hat sie den Menschen verlassen, beginnt man, sie zu vermissen.
Schon eine Erkältung wirft so manchen, meist männlichen Geschlechts, vollkommen
aus der Bahn, und er harrt der Tage, an denen er wieder Herr seiner körperlichen
Kräfte ist.
Was aber,
wenn der Feind kein harmloser Schnupfen ist? Ein komplizierter Knochenbruch, ein
entzündetes Organ, ein Tumor gar oder ein Herzinfarkt? Was, wenn einem sämtliche
Zügel aus der Hand genommen wurden, man nicht mehr Herr des Lebens ist und hilflos
zusehen muss, was mit einem geschieht?
Martin Pohlmann
lenkte den schweren BMW durch den Nieselregen und wurde mit jedem Meter, den sie
sich dem Universitätskrankenhaus in Hamburg-Eppendorf näherten, ruhiger und nachdenklicher.
Sein Chef, genauer gesagt, seit zwei Tagen Exchef, wurde von einer Minute auf die
nächste von einem hochverdienten Hauptkommissar und Experten für psychopathische
Killer zu einem halbseitig gelähmten Schnabeltassentrinker degradiert und hatte,
außer dem Blick aus seinem Fenster, nichts mehr, womit er sich hätte herumärgern
können.
Martin passierte die Schranke des
Pförtners, dankte winkend fürs Öffnen und suchte in der Nähe der Kardiologie einen
Parkplatz. Nachdem er keinen fand, stellte er den Wagen vor dem Eingang ab und hängte
seine Dienstplakette sichtbar hinter die Scheibe. Er fröstelte und dies nicht nur
wegen der Kälte. Sie betraten jenen Kliniktrakt, der den Menschen mit gebrochenem
Herzen gewidmet war. Nach freundlicher Auskunft fanden sie den Flur, in dem Lorenz
ein Einzelzimmer hatte.
Werner klopfte
und sie traten ein. Der erste Schweiß machte sich auf Martins Stirn bemerkbar, während
Werner gelassen zu bleiben schien. Nicht dass es ihm nicht an die Nieren gegangen
wäre, dass sein Vorgesetzter aus Rang und Arbeit gestoßen worden war, aber es machte
ihm nichts aus, Gänge durch Krankenhäuser zu gehen, ohne weiche Knie zu bekommen.
Werner ging mit diesen Dingen eher sachlich und rational um, anders als Martin,
dem das Herz in dieser Minute bis zum Halse schlug.
Der Anblick,
der sich ihnen beiden bot, schockierte auch Werner. Martin schloss mit feuchten
Händen die Tür des Krankenzimmers, die so breit war, dass Patienten, auf dem Bett
liegend, tot oder lebendig, hindurchgeschoben werden konnten. Unwillig folgte er
Werner durch einen kleinen Flur und blieb neben ihm stehen.
Lorenz saß,
mit dem Rücken zu ihnen, in einem Rollstuhl und schaute aus dem Fenster. Seine linke
Körperhälfte hing schlaff herunter. Die Veränderung, die an ihm stattgefunden hatte,
war nicht zu übersehen. Der korrekt gestutzte Kinnbart bekam Gesellschaft in Form
eines dichten Rasens grauer Stoppeln. Das restliche ihm verbliebene Haar schien
ungekämmt, und die Büschel reckten sich am Hinterkopf in alle Richtungen. Für seine
Untergebenen war Lorenz stets der Inbegriff eines chaotischen Genies gewesen, doch
seine Körperpflege hatte er nie vernachlässigt. Nie hätte er sich träumen lassen,
dass ihm Speichel aus dem Mundwinkel sabberte, dass er keinen Stift mehr halten
konnte. Er wandte den Blick von Lorenz ab und suchte Angenehmeres für seine Augen.
Er mochte nicht hinschauen, wie Lorenz versuchte, sich in seinem Stuhl aufzurichten,
wie sein linkes Augenlid sich nicht vollständig schließen ließ und wie der Mann
um Jahrzehnte gealtert schien. Jener, der noch vor
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