Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
seinem
Bewusstsein wie grelle Blitze aufdrängten, in die Schranken zu weisen und über den
aktuellen Fall zu grübeln.
Wo war er am Vorabend stehen geblieben?
Er hatte die beeindruckende Vita von Prof. Keller studiert, sich vorgenommen, mehr
über ihn in Erfahrung zu bringen, und war über den handgeschriebenen Zeilen eines
einsamen Kindes, das heute eine erwachsene Frau war, eingeschlafen. Die nächste
Akte, eine hellgraue, enthielt alles über einen weiteren Kläger, der auf der Suche
nach seiner Identität war. Der von seinem Vater anerkannt werden wollte, selbst
wenn dieser womöglich schon lange tot war und er selbst bereits die 70 vor vier
Monaten überschritten hatte. Pohlmann rieb sich die Augen und begann zu lesen:
Alois Feldmann,
unehelich geboren am 3. September 1940 in Steinhöring bei München. Name des Vaters
unbekannt, Mädchenname der Mutter Edeltrude Schatz, geboren am 10. Oktober 1920,
zum Zeitpunkt der Geburt knapp 20 Jahre alt. Hatte im Lebensbornheim entbunden,
eine Weile dort gewohnt und ist ohne Kind nach Norddeutschland umgezogen. Alois,
dessen Name der Heimleiter ausgesucht hatte, erhielt, wie die meisten der hier Geborenen,
eine ordentliche Namensgebungsfeier.
Pohlmann
schob die Akten von der Decke, kroch aus seinem Bett und ging in sein ehemaliges
Arbeitszimmer, in dessen Regalen Unterlagen aus der Studienzeit aufgereiht waren.
Er zog zielstrebig ein Buch über die NS-Zeit heraus und fand im Register alle Informationen
zum Thema ›Namensgebungsfeier Lebensbornheim‹. Mit dem Zeigefinger auf dem Blatt
suchend, fand er den Eintrag, der ihn weiterbringen würde: Im Rahmen dieser an die
christliche Taufe angelehnten Zeremonie wurden die Säuglinge unter den Schutz der
Sippengemeinschaft der SS gestellt. Männer aus den Reihen der SS übernahmen die
Patenschaften für ein Kind.
Im Falle
von Alois Feldmann fand sich der Name Gisbert Reich in dessen Akte. Sturmbannführer
der SS.
Martin las
in dem Geschichtsbuch weiter. Die Feier wurde mit Blasmusik eröffnet, dann zitierte
der Heimleiter einen ihm sinnig erscheinenden Spruch, philosophierte über Sinn und
Brauchtum der Namensgebung sowie über die Schaffung einer arischen Elite, die das
deutsche Volk vortrefflich in der Welt repräsentieren würde.
Martin blätterte
in dem Buch über Lebensbornheime weiter und fand Berichte über derartige Feiern
in allen Heimen. Er las Zeugenaussagen von sogenannten braunen Schwestern, die berichteten,
dass der feierlichste Teil ihrer Meinung nach jener war, in dem der Zeremonienmeister
drei Fragen an die Mutter und den Paten richtete. Die Fragen lauteten in etwa: Deutsche
Mutter, verpflichtest du dich, deinen Sohn im Geiste der nationalsozialistischen
Weltanschauung zu erziehen? Die Mutter besiegelte ihr gesprochenes Ja-Wort mit einem
Handschlag.
Darauf wandte
sich der Heimleiter an den Paten mit den Worten: Bist du, edler SS-Kamerad, bereit,
dieser Mutter und ihrem Kind, wenn sie in Not und Gefahr geraten, persönlichen Schutz
zu gewähren? Wieder ein kräftiger Handschlag des Paten. Dann weiter: Bist du ebenfalls
bereit, die Erziehung des Kindes im Sinne des Sippengedankens unserer Schutzstaffel
stets zu überwachen? Handschlag und ein zackiges Jawohl. Nun kam der mystisch überladene
Moment, wenn der Heimleiter dem Kind den kalten SS-Dolch auf den Bauch legte und
ihm, feierlich gestikulierend, die Worte zusprach: Ich nehme dich hiermit in den
Schutz unserer Sippengemeinschaft auf.
Martin sah
im Geiste die Szene vor sich, wie innerhalb dieser Prozedur dem Kind der Name Alois
zugesprochen wurde.
Er ging
in sein Schlafzimmer, setzte sich auf sein Bett und las weiter in den Papieren über
Alois Feldmann: Nach Kriegsende wuchs Alois bei Pflegeeltern auf. Pflegevater: Kurt
Feldmann, Pflegemutter: Karin Feldmann, gebürtige Schütz.
Pohlmann
stutzte. Wieso lautete offiziell Alois’ Nachname Feldmann, nur, weil die Pflegeeltern
so hießen? Wo, um alles in der Welt, stand der richtige Name des Kindes? Pohlmann
blätterte die Seiten durch und suchte nach handschriftlichen Notizen oder Ähnlichem,
um den richtigen Namen des Kindes herauszufinden. Auf einer Seite stach ihm der
Begriff ›Geheimfall‹ ins Auge und er wusste, was dies bedeutete: dass der Vater
des Kindes, vermutlich hochrangiger SS-Mann, verheiratet, eigene Kinder, auf keinen
Fall namentlich irgendwo erscheinen wollte. Das Kind in die Welt setzen – ja, aber
unter keinen Umständen damit in Verbindung gebracht werden. Dem Führer, wie
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