Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
überhaupt eingesteckt hatte, als er Ecuador verlassen hatte.
Er stand
unter dem kleinen Vordach des Hauses und öffnete nacheinander die Reißverschlüsse
seines Rucksackes und beider Koffer. Kein Klimpern war zu hören und kein Schlüssel
zu ertasten. Nun war er sich sicher, dass es keine Schlüssel für die Tür, vor der
er stand, gab. Mist, schimpfte er. Er klopfte die Taschen seiner Lederjacke ab,
aber auch da war nichts. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wo er vor fast zwei
Jahren den Schlüsselbund deponiert hatte, doch diese Sache schien wie ausgelöscht
aus seinem Hirn. Er nahm sich vor, zu einem späteren Zeitpunkt darüber nachzudenken,
wenn er nicht mehr so müde wäre. Er schellte bei Frau Lutter, einer alten Dame im
Erdgeschoss, und freute sich, als sie ihm öffnete.
Mit vielen
Worten musste er ihr erklären, wie es ihm ging, wie die Reise war und überhaupt
müsse er ihr beim Tee alles über das wilde Land in Südamerika erzählen. Martin schwor
ihr bei allen Heiligen, die er nicht kannte, dass er ihr ausführlich berichten würde,
doch jetzt müsse er erst mal etwas Schlaf nachholen. Dafür hätte sie doch sicher
Verständnis. Und ob sie noch den Schlüssel hätte, den er ihr mal vor Jahren gegeben
hatte. Sie verschwand im Inneren ihrer Wohnung, und Martin hörte sie aufgeregt klimpern.
Sie kam wieder heraus, schlug sich an die Stirn und erinnerte ihn daran, dass er
ihr den Schlüssel vor der Reise abgenommen hatte. Martin zog ein altes Nokia-Handy
aus der Tasche, was lediglich zum Telefonieren taugte, schaltete es ein und sah,
wie der kleine Balken, der die Energie des Gerätes anzeigte, mit einem schrillen
Piepen erlosch. Der Akku hatte schon vor dem Flug den Geist aufgegeben.
»Darf ich
mal Ihr Telefon benutzen?«
»Inland?«,
fragte sie nervös.
»Schlüsseldienst.
Ich brauche ein neues Schloss.«
Nach 20 Minuten in Frau Lutters
Wohnung wurde Martin von einem stämmigen Mann mit einer Klempnertasche erlöst.
»Dritter
Stock«, lotste ihn Martin.
»Kein Aufzug?«
»Nee, kein
Aufzug.«
Der Schlüsselexperte
schleppte sich und seine Tasche Stufe für Stufe empor. Als er oben ankam, schwitzte
er stark und ließ klirrend die Tasche fallen. »Die hier? Pohlmann?«
Martin nickte
und zeigte ihm unaufgefordert den Personalausweis. Der Dicke sah ihn sich nicht
an. Es war ihm egal, solange bezahlt wurde.
Mit wenigen
Griffen, einer Bohrung und einem kurzen Krachen war die Tür offen. Der alte Zylinder
wurde entfernt, der neue montiert und 300 Euro kassiert.
Willkommen
zu Hause.
Martin drückte
die Tür auf und schob Tonnen von Werbung, die durch den Briefschlitz geworfen worden
waren, zurück. Er rollte seine Koffer hinein, stellte sie ab und schloss die Tür,
nachdem er mit dem Fuß das Altpapier an die Wand gekickt hatte.
Eine seltsame
Stimmung befiel ihn. Der Ort, den er auf immer verlassen wollte, hatte ihn wieder.
Er fühlte sich allein. Es roch nach abgestandener Luft, und obwohl er die Heizungen
vor der Abreise auf eins gestellt hatte, kroch die Kälte der Mauern unter seine
Haut. Nichts Gemütliches oder Heimeliges empfing ihn.
Martin schüttelte
die trüben Gedanken wie lästige Fliegen ab und beschloss, das einzig Vernünftige
zu tun, was in seiner Situation zu tun ratsam war: ausgiebig zu schlafen.
2. November 2010
Am nächsten Morgen stand Pohlmann
um zehn Uhr bei Lorenz auf der Matte. Er empfand sein nicht ganz pünktliches Erscheinen
in Anbetracht der Zeitumstellung als gerechtfertigt. Ein letztes Mal sah er an sich
herab: Er war unpassend gekleidet. Die Hemden, die sich in seinem Kleiderschrank
stapelten, hatten die Größe M. Seit einem Jahr brauchte er L. Die Hosen, die er
vor seiner Abreise getragen hatte, entsprachen der Konfektionsgröße 48. Nun brauchte
er 52. Also musste er sich aus seinem Koffer bedienen, und dort fand er nur schlabberige
Hawaii-Hemden und löchrige, abgewetzte Jeans. Es war schließlich nicht seine Idee
gewesen, gleich am ersten Tag parat zu stehen, doch er beruhigte sich mit dem Gedanken,
dass er heute nur ein Briefing und ein Gläschen Sekt bekommen würde. Doch er sollte
sich gründlich getäuscht haben.
*
Unter normalen Umständen hätte sich
der frisch eingetroffene Beamte ein paar Tage akklimatisieren müssen, doch leider
herrschten zurzeit in Hamburg keine normalen Zustände. Lorenz öffnete die Tür, bat
Martin herein und studierte dessen Outfit. Einen Kommentar hielt er zurück. Martin
sah sich um. Es war
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