Raststätte Mile 81
festhielt.
Carla packte Johnny um die Taille und zerrte mit der irren Superkraft von Adrenalin an ihm. Die Tür ging wieder ein Stück weit auf, und wie ein kleiner Wasserfall floss Blut über die Türschwelle. Einen schrecklichen Augenblick lang sah sie den Kopf ihres Mannes, der unnatürlich zur Seite verrenkt auf dem schlammigen Boden des Kombis lag. Obwohl er noch in ihren Armen zitterte, begriff sie (in einem jener blitzartigen lichten Momente, die es selbst in einem völligen Paniksturm noch gab), dass Gehenkte so aussahen, wenn sie abgeschnitten wurden. Weil ihr Genick gebrochen war. In diesem kurzen, eindringlichen Augenblick – diesem flüchtigen Stroboskopblick – fand sie, dass er dumm und überrascht und hässlich aussah, ganz seines Johnny-Wesens beraubt, und sie wusste, dass er bereits tot war, ob er nun zitterte oder nicht. So sah ein Junge aus, nachdem er bei einem Kopfsprung in ungeahnt seichtes Wasser auf Steinen aufgekommen war. So sah eine Frau aus, die von der Steuersäule ihres Lenkrads aufgespießt worden war, nachdem ihr Wagen gegen einen Brückenpfeiler geknallt war. So sah man selbst aus, wenn ein entstellender Tod einen scheinbar aus dem Nichts überfiel.
Die Fahrertür wurde brutal zugeknallt. Carla hielt die Taille ihres Mannes noch immer mit den Armen umklammert, und als sie nach vorn gerissen wurde, hatte sie einen weiteren blitzartig lichten Moment.
Es ist das Auto, du musst von dem Auto wegbleiben!
Sie ließ Johnnys Taille einen Augenblick zu spät los. Eine Strähne ihrer langen Haare fiel gegen die Tür und wurde eingesaugt. Bevor sie sich befreien konnte, knallte ihr Schädeldach an den Wagen. Plötzlich begann ihre Kopfhaut zu brennen, als das Ding sich in ihren Schädel fraß.
Lauf!, versuchte sie ihrer oft schwierigen, aber unbestreitbar intelligenten Tochter zuzurufen. Lauf, und nimm Blakie mit!
Doch bevor sie dazu kam, diesen Gedanken auch auszusprechen, war ihr Mund verschwunden.
*
Nur Rachel hatte gesehen, wie der Kombi seine Tür zugeknallt und den Kopf ihres Daddys wie eine Venusfliegenfalle einen Käfer verschlungen hatte, aber jetzt sahen beide Kinder, wie ihre Mutter plötzlich durch die schlammige Tür gezogen wurde, als wäre die Fahrertür ein Vorhang. Sie sahen, wie einer ihrer Mokassins abgestreift wurde, sie erhaschten einen Blick auf ihre rosa lackierten Zehennägel, und dann war sie fort. Im nächsten Augenblick verlor der schlammige Kombi seine Form und ballte sich wie eine Faust zusammen. Durch das offene Beifahrerfenster hörten sie ein knackendes Geräusch.
»War das?«, kreischte Blakie. Aus seinen Augen strömten Tränen, seine Unterlippe war rotzverschmiert. »War das, Rachie, war das, war das?«
Ihre Knochen, dachte Rachel. Sie war erst sechs Jahre alt und durfte noch in keine PG-13-Filme gehen oder sie sich im Fernsehen ansehen (von R-Filmen ganz zu schweigen; ihre Mutter behauptete, R stehe für richtig schlimm ), aber sie wusste dennoch, dass es sich um das Geräusch brechender Knochen handelte.
Das Auto war kein Auto. Es war irgendeine Art Monster.
»Wo Mami-n-Daddy?«, fragte Blake und richtete seine durch die Tränen noch größer wirkenden Augen auf sie. »Wo Mami-n-Daddy, Rachie?«
Er redete, als ob er wieder zwei wäre, dachte Rachel und empfand für ihren kleinen Bruder, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, etwas anderes als Gereiztheit (oder regelrechten Hass, wenn er sie durch sein Verhalten extrem provozierte). Sie glaubte nicht, dass dieses neue Gefühl Liebe war. Sie hielt es für etwas noch Größeres. Ihre Mutter hatte zuletzt nichts mehr sagen können, aber Rachel wusste, was es gewesen wäre, wenn sie noch Zeit dafür gehabt hätte: Sorg für Blakie.
Jetzt schlug er in seinem Kindersitz um sich. Er wusste, wie man die Gurte löste, aber in seiner Panik hatte er es vergessen.
Rachel öffnete ihren Sicherheitsgurt, rutschte vom Sitzpolster und machte sich daran, sein Gurtzeug zu öffnen. Eine der fuchtelnden Hände traf sie im Gesicht und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Unter normalen Umständen hätte ihm das einen kräftigen Boxhieb an die Schulter eingebracht (und ihr eine Verbannung in ihr Zimmer, in dem sie dagesessen und vor Wut kochend die Wand angestarrt hätte), aber jetzt packte sie nur seine Hand und hielt sie fest.
»Hör auf! Ich will dir nur helfen! Ich kann dich aber nicht rauslassen, wenn du so rummachst!«
Er hörte auf, zu strampeln und um sich zu schlagen, aber er weinte weiter. »Wo
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