Ratgeber Magersucht
zu den Eltern.
Mit diesem Gewicht begab sie sich erneut in stationäre Therapie in einer Psychosomatischen Klinik. Diesmal gelang ihr die Gewichtszunahme nicht so leicht. Einerseits war sie deutlich niedergeschlagener als beim ersten Klinikaufenthalt. Andererseits kämpften die ganze Zeit zwei Seiten in ihr miteinander, „Engelchen“ und „Teufelchen“ hatte sie sie getauft. Die gesunde Seite, das Engelchen, wünschte sich gesund zu werden. Aber das Teufelchen hielt immer dagegen. Das Teufelchen erinnerte sie an ihre große Angst vor den Folgen einer Veränderung ihres Verhaltens, vor der Gewichtszunahme und den damit einhergehenden körperlichen Veränderungen. Wofür lohnte es sich denn überhaupt, den schwierigen Weg des Gesundwerdens zu gehen? Kirsten gelang es nicht, aus eigener Kraft zuzunehmen, Hoffnungslosigkeit und Angst waren stärker als ihre gesunde Seite.
Nach zwei Wochen begab sich Kirsten freiwillig auf den dringenden Rat ihrer Therapeutin und ihres Arztes zur Gewichtszunahme per zentralem Venenkatheter in die internistische Abteilung eines nah gelegenen Krankenhauses.
Dort hatte sie ein Schlüsselerlebnis. Sie lag in einem Zimmer mit schwer körperlich Kranken. Kirsten wurde bewusst, wie sie ihrem Körper durch ihr Verhalten schadete, dass sie sich selbst in so einen bedrohlichen körperlichen Zustand gebracht hatte. Dafür schämte sie sich sehr. Mit internistischer Hilfe nahm sie 4 kg zu und setzte danach den Klinikaufenthalt in der Psychosomatischen Klinik fort. Dort ging es ihr zunächst merkwürdigerweise sehr schlecht, obwohl sie froh war, nicht mehr im Krankenhaus zu liegen. In der Therapie wurde gemeinsam herausgefunden, dass dies damit zusammenhing, dass eine Mitbetroffene aus dieser Klinik noch immer in der internistischen Abteilung des Krankenhaus liegen musste. Kirsten glaubte, es dürfe ihr nicht gut gehen, wenn es jemand anderem nicht gut gehe – so wie es auch zu Beginn ihrer Erkrankung mit ihrer Mutter gewesen war. Ein wichtiges Thema in der ganzen Therapie war deshalb, dass Kirsten lernte, mit sich selbst unabhängig von dem Befinden anderer fürsorglich umzugehen. Notwendig dafür war, dass sie sich dies selbst zunächst einmal erlaubte.
Ein zweites wichtiges Erlebnis war, dass Kirsten Tante wurde: Ihre Schwester bekam ein Kind. Kirsten wurde bewusst, dass sie selbst sich auch eine Familie wünscht, dass dies aber mit ihrer Essstörung nicht vereinbar war.
Kirsten setzte sich in der Therapie dann ganz intensiv mit sich und ihren Problembereichen auseinander. Sie erkannte, dass sie gelernt hatte, keine Gefühle zu zeigen und Gefühle wegzuschieben, weil dies verletzlich macht. Auch eigene Bedürfnisse konnte sie kaum wahrnehmen, geschweige denn äußern. Die Essstörung war hier für sie sehr hilfreich gewesen: Einerseits hatte sie Gefühle kaum noch wahrgenommen, andererseits war das Abnehmen ein guter Weg gewesen, um Aufmerksamkeit und Zuwendung von ihrer Familie zu bekommen, ohne das Bedürfnis danach äußern zu müssen.
Kirsten übte einerseits, verstärkt auf ihre Gefühle zu achten und diese auch zu äußern, selbst wenn dies vielleicht bedeutete, jemand anderen zu verletzen oder sich selbst verletzlich zu machen. Und sie lernte, sich auf anderen Wegen Aufmerksamkeit und Zuwendung zu verschaffen. Zum Beipiel forderte sie einen Termin beim Leiter der Station ein, weil sie ihm gern von ihren Fortschritten berichten wollte. Wie groß Kirstens Fortschritte waren, zeigte sich darin, dass sie sich auch in der Therapie traute, Kritik zu üben: Sie hatte sich einmal sehr über ihre Therapeutin geärgert, die die Einzeltherapiestunde wegen eines Telefonats abrupt beendet hatte. Statt wie gewohnt das Gefühl von Ärger und Verletzung herunterzuschlucken, holte Kirsten sich einen Termin und sprach ihre Gefühle offen an. Hilfreich war für sie die Teilnahme am sozialen Kompetenztraining in der Gruppe, wo sie solche kritischen Situationen im Rollenspiel erprobte. Unter anderem übte sie, sich im Rollenspiel gegenüber ihrem Kollegen abzugrenzen. In der Bewegungstherapie arbeitete sie daran, Gefühle auch körperlich auszudrücken. In allen Gruppen- und Einzeltherapien wurde darauf geachtet, Kirsten in der Wahrnehmung und Äußerung ihrer Gefühle und Bedürfnisse zu unterstützen.
Kirsten wurde immer mehr bewusst, wie sehr sie auf soziale Kontakte und enge Beziehungen zu Mitmenschen angewiesen war. Sie vermisste Nähe und Warmherzigkeit jedoch besonders in ihrem familiären
Weitere Kostenlose Bücher