Ratgeber & Regenten 01 - Die Bluthündin
angefangen.« Sie nahm einen Arm aus dem Wasser, um sich Schaum aus dem Gesicht zu wischen. »Es ist schon erstaunlich, wie weit man in dieser Stadt kommt, ohne die Erde zu berühren.«
Sein Blick wanderte zum offenen Fenster, das gut sechs Stockwerke über Straßenniveau war, und er wunderte sich. Was es auch immer mit dieser jungen Frau auf sich haben mochte, sie hatte auf jeden Fall ein starkes Ehrgefühl, sonst hätte sie nicht solche Mühen auf sich genommen, um ihre Verantwortung zu erfüllen.
Oder gab es einen anderen Grund für ihre Anwesenheit?
»Ist zwischen uns noch eine Schuld offen?« fragte er vorsichtig.
Sie zuckte die Achseln, woraufhin Matteo rasch den Blick abwandte. »Kommt darauf an. Wie ist denn die Arbeit im Palast?«
»Sonderbar«, erwiderte Matteo ehrlich. »Ich muß erst noch herausfinden, wie ich der Königin wirklich dienen kann.«
»Hmmm«, machte Tzigone. »Was kannst du denn?«
Er sah sie wieder an. »Wie bitte?«
»Für welche Dienste bist du ausgebildet, vom Kampf abgesehen? Ich habe ja schon gesehen, was du mit einer Klinge bewerkstelligen kannst.«
»Für vieles – Geschichte, Kampfstrategien, Etikette, Protokoll, Sprachen, Gebräuche, Wappenkunde. Es ist schwierig, einen Rat zu geben, wenn man sich in solchen Dingen nicht auskennt. Wir müssen auch Magie studieren und ihre Stärken und Schwächen lernen.«
Sie nickte und hatte die Augen inzwischen weit offen. »Wie kannst du dir auch nur die Hälfte von alledem merken? Ich frage nicht nur so, ich will es wirklich wissen.«
»Das merke ich«, murmelte er und wunderte sich über die Eindringlichkeit ihrer Worte. »Das Gedächtnis ist Begabung und Geschick gleichermaßen. Einige haben eine größere Kapazität als andere, so wie der eine eine bessere Gesangsstimme hat als der andere. Aber es gibt Methoden, um das Gedächtnis zu fördern. Von Kindheit an arbeiten Jordaini daran, einen Palast der Gedanken zu bauen, ein Zimmer nach dem anderen, die alle durch Korridore miteinander verbunden sind. Es ist eine sehr planmäßige und präzise Arbeit. Jede Tatsache und jeder Gedanke werden mit einem bestimmten Ort verbunden. Ich kann mir die Wege fast bildhaft vorstellen, die ich zurücklegen muß, um einen bestimmten Raum zu erreichen.«
»Was ist denn im Keller?« wollte sie wissen. »Und in den Verliesen?«
Matteo sah sie erstaunt an. »Was meinst du?«
»Wie weit kannst du zurückgehen?«
Er überlegte. »Ich habe Erinnerungen, die bis zu meinem zweiten Lebensjahr zurückreichen. Es gibt auch noch frühere Erinnerungen, aber das sind mehr Eindrücke – vage und warm, aber nicht in Worte gefaßt.« Er machte eine Pause und bemerkte, daß sie ihn ungläubig ansah. »Das kommt bei Jordaini oft vor. Mein Freund Andris behauptete, sich an Dinge zu erinnern, die er im Mutterleib gehört haben mußte. Aber vielleicht wollte er uns damit auch nur aufziehen.«
»Zeig mir, wie das geht«, verlangte Tzigone.
Matteo warf ihr ein Handtuch zu. »Komm ins Wohnzimmer, dann werden wir sehen, was wir machen können.«
Augenblicke später kam sie herein, trug Gamaschen und Tunika in Grün und sah ziemlich genau wie eine vom Tau durchnäßte Dryade aus.
»Fang an«, sagte sie und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden.
Matteo wies sie an, die Augen zu schließen und die früheste Erinnerung zu Tage zu fördern, die sie fand. »Sag mir, was es ist.«
»Feengeist«, sagte sie mit leiser, fast schon kindlicher Stimme. »So nannte ich ihn. Das war auch das, was er war – ein Feengeist. Ich vermute, er hatte noch einen anderen Namen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals gehört zu haben.«
»Wie alt warst du zu der Zeit?«
Sie zuckte die Achseln. »Fünf, vielleicht sechs. Aber vor dem Feengeist gibt es nichts.«
»Das ist nicht ungewöhnlich. Es kommt vor, daß nur wenige Erinnerungen an die frühen Jahre verbleiben. Ist es wichtig?«
»Ja.«
Sie sagte es mit solcher Endgültigkeit und so viel Gefühl, daß Matteo gar nicht auf die Idee kam, ihre Absicht in Frage zu stellen. »Dann versuchen wir etwas anderes. Stell dir deinen Geist vor – im buchstäblichen Sinn die Wege in deinem Körper, auf denen sich deine Gedanken bewegen. Wo ist die Erinnerung an den Feengeist angesiedelt? Kannst du es dir bildlich vorstellen?«
Sie runzelte die Stirn, dann nickte sie. »Ja.«
»Bewege dich weiter vor und etwas nach links«, wies er sie behutsam an.
Sie stellte sich vor, wie sie in ihrem Geist versank. Einen Moment lang
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