Rattenkoenig
Grey und setzte nachträglich hinzu: »Sie sehen wirklich wie in Hochform aus.« Aber er wußte, daß er sich bald um Ersatz kümmern mußte. Er blickte wieder zum King hinaus und beobachtete, wie er rauchte, und es wurde ihm vor Hunger nach einer Zigarette übel.
Masters ächzte erneut.
»Was, zum Teufel, ist denn mit Ihnen los?« fragte Grey zornig.
»Nichts, Sir. Nichts. Ich muß …«
Aber die Anstrengung zu sprechen war zuviel, und Masters ließ die Worte verklingen und sich mit dem Summen der Fliegen mischen. Fliegen beherrschten den Tag, Moskitos die Nacht. Keine Stille. Nie. Wie es sein mochte, ohne Fliegen und Moskitos und Menschen zu leben?
Masters versuchte sich daran zu erinnern, aber die Anstrengung war zu groß. Deshalb saß er einfach still, ruhig, kaum atmend, nur noch Hülle eines Mannes. Und seine Seele zuckte unbehaglich.
»Schon gut, Masters, Sie können jetzt gehen«, sagte Grey. »Ich werde auf Ihre Ablösung warten. Wer ist dran?«
Masters zwang sein Hirn zur Arbeit und antwortete nach einer ganzen Weile: »Bluey … Bluey White.«
»Um Gottes willen, reißen Sie sich zusammen!« fuhr Grey ihn an. »Korporal White ist vor drei Wochen gestorben.«
»Oh, entschuldigen Sie, Sir«, hauchte Masters matt. »Entschuldigen Sie. Ich muß ganz … Es ist … äh, ich glaube, es ist Peterson. Der Pommy, ich meine Engländer. Infanterist, glaube ich.«
»Schon gut. Sie können jetzt gehen und Essen fassen. Aber trödeln Sie nicht und kommen Sie gleich zurück.«
»Jawohl, Sir.«
Masters setzte seinen Kulihut aus Rattangras auf und salutierte und torkelte zur türlosen Tür hinaus, wobei er die Fetzen seiner Hose hochzog. Mein Gott, dachte Grey, man riecht ihn auf fünfzig Schritt Entfernung. Sie müssen einfach mehr Seife ausgeben.
Aber er wußte, daß es nicht Masters allein war. Sie alle waren es. Wenn man nicht sechsmal am Tag badete, hing der Schweiß wie ein Leichentuch um einen. Und als er an Leichentücher dachte, fiel ihm wieder Masters ein – und das Mal, das er trug. Vielleicht wußte Masters es auch, was hatte es also für einen Sinn, sich zu waschen?
Grey hatte viele Männer sterben sehen. Bitterkeit begann in ihm aufzuwallen, als er an das Regiment und an den Krieg dachte. Verdammter Scheißkram, schrie er beinahe, vierundzwanzig und immer noch Leutnant. Und ringsum ging der Krieg weiter – auf der ganzen Welt. Beförderungen jeden Tag, das ganze Jahr. Gelegenheiten! Und hier sitze ich, in diesem dreckigen Kriegsgefangenenlager, und bin immer noch Leutnant. Großer Gott! Wären wir 42 nur nicht nach Singapur verladen worden. Wenn wir nur dahin gegangen wären, wohin wir hatten gehen sollen – zum Kaukasus. Wenn wir …
»Hör auf«, schrie er laut. »Du bist genauso schlimm wie Masters, du verfluchter Idiot!«
Im Lager war es normal, zuweilen laut mit sich selbst zu reden. Besser, es laut auszusprechen, als alles in sich hineinzuwürgen, hatten die Ärzte immer gesagt – das führte nur zu Wahnsinn. An den Tagen war es meist nicht so schlimm. Man konnte aufhören, über sein anderes Leben nachzudenken und über dessen Inhalt – Essen, Frauen, Zuhause, Essen, Essen, Frauen, Essen. Aber die Nächte waren gefährlich! Nachts träumte man. Träumte von Essen und Frauen. Von der eigenen Frau. Und bald gefiel einem das Träumen besser als das Wachen, und wenn man achtlos war, träumte man auch im Wachen, und die Tage gingen in Nächte über und die Nacht in den Tag. Dann gab es nur Tod. Leicht. Sanft. Es war leicht zu sterben. Todeskampf zu leben. Außer für den King. Er hatte keinen Todeskampf.
Grey beobachtete ihn noch immer, versuchte aufzuschnappen, was er gerade zu dem Mann neben ihm sagte, aber er stand zu weit entfernt. Grey versuchte den anderen einzuordnen, aber es gelang ihm nicht. An der Armbinde des Mannes konnte er erkennen, daß er Major war. Auf japanischen Befehl mußten alle Offiziere am linken Arm eine Armbinde mit den Rangabzeichen tragen. Jederzeit. Selbst nackt.
Die schwarzen Regenwolken türmten sich jetzt schnell auf. Wetterleuchten zuckte im Osten auf, aber noch immer stach die Sonne herab. Eine übelriechende Brise fegte einen Augenblick den Staub hoch, ließ ihn dann sich legen.
Automatisch benutzte Grey die Fliegenklatsche aus Bambus. Eine geschickte, halb unbewußte Wendung des Handgelenkes, und wieder fiel eine Fliege zu Boden, zermalmt. Eine Fliege zu töten war gedankenlos. Zum Krüppel mußte man sie machen, dann würde das Stinktier
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