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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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wurde oder weil er wieder nicht aufgepasst und sie nicht geschlagen hatte oder weil er versucht hatte, zu schummeln. Sagte Lea.
    »Schade, dass Mama und Papa nicht da sind.« Lea sah zum Küchen fenster hinaus, hinüber zum Flugzeugwrack. »Papa muss auch immer viel fliegen. Jetzt ist er gerade in Schweden. Schweden ist gaaanz weit weg, viel weiter als Bonndorf oder Freiburg. Weißt du, wo Schweden ist? Nein?« Lea sprang vom Tisch auf, das Spiel war eh zu ihren Gunsten entschieden, und rannte in Bubis Zimmer. Zurück kam sie mit einem alten Kinderatlas. Sie schob das Spielbrett zur Seite und öffnete den Atlas vor Assauer, sodass er, hätte er denn gewollt, ihren Ausführungen genau folgen konnte. »Schau, hier ist Deutschland und ganz da unten, da wo Onkel Frieder gestern den kleinen Punkt hingemalt hat, da ist Wellendingen. Und ganz da oben ist Schweden!« Das Kind betrachtete die Landkarte und versuchte die abstrakte Zeichnung in seine eigene Wirklichkeit umzusetzen. »Meinst du, dass Papa vielleicht morgen wieder bei uns ist? Onkel Frieder sagt, es fliegen erst mal keine Flugzeuge mehr. Deines ist ja auch abgestürzt. Siehst du«, sie kletterte auf Assauers Schoß und drehte seinen Kopf Richtung Fenster, »da, dein Flugzeug. Sieht schlimm aus, nicht?« Lea starrte über das Dorf zum Airbusrumpf hinüber. Assauers Blick schien ihr zu folgen, aber er nahm nichts wahr, er war eingesperrt in einem Zustand, der aus Reflexen und aus früh Erlerntem bestand. Er konnte schlucken und er konnte gehen, wenn ihn jemand an der Hand nahm und führte. Sein Bewusstsein aber verharrte in einer Zeitschleife, erlebte einen Moment seines Lebens wieder und wieder und immer wieder. Eine Schallplatte – von einem winzigen Kratzer in einer einzigen Rille gefangen. Aber seinem Gesichtsausdruck nach schien es wenigs tens ein angenehmer Augenblick zu sein.
    »Schweden ist sehr weit weg, weiter als Amerika, glaub ich, oder Afrika! Wenn ich mal größer bin, hat Papa gesagt, nimmt er mich mal mit nach Schweden! Nur mich, Mama muss hierbleiben. Das wird bestimmt lustig.« Lea saß auf Assauers Schoß, den Kopf an seine magere Brust gelehnt, und spielte mit seinen weißen Locken. Das Flugzeug da drüben machte ihr Angst. Und, dass ihre Eltern nicht bei ihr waren. Aber sie war schon ein großes Kind und deshalb durfte sie sich von ihrer Angst nicht auffressen lassen. Außerdem war sie für Herrn Mittwoch verantwortlich.
    Faust spürte den Mühlstein an seinem Hals immer deutlicher. Gestern Abend, als er in seinem Wagen einige Bier gekippt hatte, war dieser Mühlstein zum ersten Mal aufgetaucht – das drückende Gewicht der Verantwortung. Es war eine Sache, anzupacken, wenn man sah, dass etwas erledigt werden musste, es war aber etwas ganz anderes, wenn man plötzlich zum Politiker gemacht wurde, wenn man die Verantwortung für eine ganze Dorfgemeinschaft tragen sollte. Er betrachtete den Tumult um sich herum: Eilig wurden Zettel organisiert und auf den Tischen verteilt, Stifte dazu gelegt. Und Bernhard Hall, den er gerade mit einem Handschlag verabschiedete, war mittlerweile schon der Achte, der ihm unter vier Augen zugeflüstert hatte, dass er, Faust, unbedingt in diesen Gemeinderat mit hineingehöre.
    Aber er wollte nicht.
    Helfen – natürlich! Irgendeine kleinere Aufgabe – gern. Aber in einem Rat sitzen, der Entscheidungen fällen muss, der Beschlüsse durchsetzt und bestimmt, wer was wann zu erledigen hat, im Sinne des Allgemeinwohls natürlich? Aus gutem Grund interessierte ihn Politik einen feuchten Kehricht, aus gutem Grund hatte er sich über vierzig Jahre lang aus allem herausgehalten, was irgendwie nach Verein roch. Er hasste demokratische Entscheidungswege, Wege, an deren Ziel meist der Ausgangspunkt – und damit das Warum – nicht mehr zu erkennen war.
    Vor ihm stand eine der letzten Bierflaschen, die der Wirt noch in seinem Lager gefunden hatte.
    Der Rat würde unpopuläre Entscheidungen treffen müssen, Entscheidungen, die manchem wehtun mussten. Das, was Lisa Sigg gesagt hatte, zeigte, dass nicht alle, deren Vorratsschränke voll waren, bereit waren, zu teilen. Der Rat würde wegnehmen müssen um andere zu retten, die kleine Seger zum Beispiel und diesen Herrn Mittwoch. Und irgendwann, das war so sicher wie das Amen in der Kirche, käme einer auf die Idee nachzufragen, welchen Beitrag eigentlich dieser alte Mann, der nicht sprechen wollte, für das Allgemeinwohl lieferte! Und dann würde es nicht mehr lange dauern und

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