Rattentanz
Jungen weinen. Der Penner schimpfte und schrie. Seine letzte Visite vor zwanzig Minuten hatten sie wieder bemerkt. Der Penner hatte ihm Geld geboten. »Ich habe zwanzigtausend Euro! Ich schenke sie dir!«
»Aus der Sparkasse, wo ihr meine Kollegen gelyncht habt?«
»Komm, lass mich raus. Ritter und Mehmet kannst du behalten, wenn du mich rauslässt.« Mehmet heulte auf. »Ich werde verschwinden als hätte es mich nie gegeben! Versprochen!«
Aber Beck hatte abgelehnt und war gegangen. Die Beschimpfungen und Flüche des Penners verfolgten Beck bis fast zur Station.
Jetzt stand er hinter Eva an der Tür zum Krankenzimmer und spielte mit einem Feuerzeug, das er unterwegs im OP-Trakt gefunden hatte. Er wollte gern weg hier. Aber er hatte Angst, allein in diese Welt hinauszugehen. Er wusste nicht wohin, aber er wusste, dass er es nicht mehr lange in dieser Gruft aushalten würde. Aber ohne die Krankenschwester wollte er auch nicht gehen, sie hatte ihm zwei Mal das Leben gerettet.
»Wie lang wollen Sie noch bei ihm bleiben?« Er flüsterte, um den Kranken nicht zu wecken.
Aber Glück öffnete prompt die Augen. Seine Augen suchten Eva. »Der Polizist hat recht, Schwästerr«, flüsterte er. »Geht und rettet euch. Mir wird keiner mehr etwas antun.«
»Aber Ihre Frau?«
Fast schien es, als suche Eva nach einem Grund, hierbleiben zu können, als habe sie die gleiche Angst wie Beck. Angst vor dem, was da draußen auf sie wartete. Sie sehnte sich nach Lea und Hans, aber sie hatte so maßlose Angst vor dem ersten Schritt, dass sie lieber in der verlogenen Sicherheit dieser Station verharrte.
Glück schlief wieder ein, die Antwort, die er augenscheinlich auf den Lippen hatte, blieb unausgesprochen dort liegen. Seine Haut war grau geworden und in dünnen blauen Linien schimmerten Blutgefäße hindurch. Seine Nase war unnatürlich spitz und die Wangen tief eingefallen.
»Ich warte bis zwei«, flüsterte Eva mit einem Blick auf ihre Uhr. »Wenn Stiller bis dahin nicht zurück ist, gehe ich die Frau holen! Ich könnte mir nie verzeihen, wenn ich ihn jetzt sterben ließe, ohne wenigstens den Versuch unternommen zu haben, seine Frau zu ihm zu holen.« Die Liebe seines Lebens, dachte sie und wünschte sich, dass, sollte Hans einmal, in ferner Zukunft, im Sterben liegen, für sie jemand das Gleiche tat.
43
12:47 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Operationssaal 3
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»Los jetzt! Einmal probieren wir es noch!« Hermann Fuchs sprang auf den Operationstisch und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Mehmet funkelte ihn böse an. Er hasste diesen alternden Penner, der nach Schweiß roch und unzählige Mitesser im Gesicht hatte. Und er hasste die Erkenntnis, dass es nur ein Entkommen gab, wenn sie zusammenarbeiteten.
Die hoch stehende Sonne hatte den kleinen Operationssaal in den vergangenen Stunden aufgeheizt wie einen Backofen. Sie schien durch die nach außen gewölbte Kunststoffkuppel in der Decke und schickte Wärme in den gekachelten Raum, Wärme, die nicht mehr entweichen konnte. Die schmalen Schlitze der Klimaanlage belächelten die Szenerie, belächelten Ritter, der in einer Ecke lag, die Augen geschlossen und unfähig, Fuchs und Mehmet zu helfen. Es war ein Hohn.
Ritter hatte hohes Fieber und die vergangenen Stunden waren ein steter Wechsel zwischen Ohnmacht und Fieberwahn, aus Stöhnen und irrem Lachen. Sein Bein war zu einer glühenden Masse aufgequollen, prall und unförmig, eine zu groß geratene Fleischwurst, deren Pelle jeden Augenblick platzen musste. Mit glasigen Augen hatte er Fuchs am Vormittag noch beobachtet, wie der den Leichnam vom Operationstisch gezerrt hatte. Fuchs hatte den Mann an den schlappen, grau en Armen gepackt, während Mehmet, der sich angeekelt geweigert hatte zu helfen, das Gesicht abwandte und Fuchs den Rücken zukehrte. Dumpf war der Körper auf die Bodenfliesen geschlagen und aus dem offenen Bauch war ein Schwall übelriechender Flüssigkeit über Fuchs’ Füße geschwappt. Auf einem kleinen Tischchen mit Rädern lagen auf einem grünen Tuch verschiedene chirurgische Instrumente, Skalpell, Klemmen und Scheren, alles blutbefleckt und hastig hingeworfen, als das Notstromaggregat ausgefallen war. Gegenüber der von Beck verriegelten Tür lagen auf mehreren Regalbrettern flache Metallkisten. Mehmet hatte eine nach der anderen geöffnet: sterile Tücher und Tupfer, noch mehr Skalpelle und Klemmen und, in einer besonders langen Kiste, Instrumente für endoskopische Eingriffe. Bei
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