Rattentanz
und es wird Stunden und Tage dauern, Ihr Sterben. Es wird ein langsamer und qualvoller Tod, es wird lange dauern, bis Sie Ihre Söhne und Ihren Mann wieder in die Arme nehmen können, dachte Eva.
In diesem Moment stöhnte Aleksandr Glück und öffnete die Augen. Seine Lider waren schwer, aber als er seine Frau sah, lächelte er. Alles war nun gut.
»Olga!«, flüsterte er. »Mein Leben.«
Sie umarmten sich und Olga Glück weinte in seinen Armen, dann überschüttete sie das kranke Gesicht ihres Mannes mit Küssen.
Eva und Beck verließen das Zimmer und gingen in den Aufenthaltsraum. Sie setzten sich an den Tisch und rauchten gemeinsam eine ihrer letzten Zigaretten.
»Wir müssen los«, drängte Beck.
Weit über dreißig Stunden war Eva jetzt hier, die längste Schicht ihres Lebens. Der Rücken tat ihr weh und um ihre Augen lagen Schatten. Beck wollte gerade etwas sagen, als Olga Glück an die Tür klopfte und um die Ecke sah.
»Entschuldigen Sie bitte, aber hätten Sie noch etwas Wasser für mich? Und eine Tuch bitte, mit dem ich seine Stirn kann abtupfen, er schwitzt so.«
»Natürlich.« Eva sprang auf und gab ihr eine Flasche Mineralwasser. Sie folgte der Frau bis an Glücks Bett.
»Er will Sie etwas fragen, Schwester.«
»Was …«
»Gehen Sie ganz nah ran. Halten Sie Ihr Ohr vor seine Mund. Er kann nur noch flüstern.«
Eva befolgte Olga Glücks Rat.
Eva Segers einziger noch verbliebener Patient sah schlecht aus, mehr tot denn lebendig. Sein Gesicht war eingefallen. Einzig die Au gen leuchteten, Augen, die nicht in dieses Bild eines nahen Endes passen wollten. Die Hand zu heben kostete ihn fast all seine verbliebene Kraft. Er berührte Evas Wange.
»Es war gut«, flüsterte er kaum hörbar, »gut, dass Sie so lange gewartet haben, Schwästerr.« Eva weinte. »Aber jetzt müssen wir uns trennen. Gehen Sie jetzt heim. Ihre Tochter braucht Sie nötiger als ich. Meine Frau wird bei mir bleiben und sie wird mich begleiten, da hin, wohin Sie noch lange nicht hingehen müssen.« Er legte eine Pau se ein. Dann: »Aber ich will nicht, dass sie leiden muss und ich will nicht, dass sie lange allein bleibt. Geben Sie uns etwas, das uns hilft, gemeinsam zu sterben, Hand in Hand. Bitte.« Er sank zurück ins Kissen und sah sie an. Jedes Wort war ihm schwergefallen, hatte viel von der wenigen Energie verbraucht, die ihm noch blieb.
»Werden Sie uns helfen?« Olga Glück sprach ruhig und gefasst.
»Aber ich kann Ihnen beiden doch nicht helfen, sich umzubringen!«
»Doch Schwesterchen, das können Sie. Oder ich suchen mir selbst etwas aus. Aber bei meinem Glück nehme ich wahrscheinlich das Falsche.«
»Bitte! Setzen Sie mich doch nicht so unter Druck!«
»Die beiden haben aber keine Zeit mehr.« Beck war ins Zimmer gekommen und hatte die letzten Worte gehört. »Und uns läuft die Zeit ebenfalls davon!«
Aleksandr Glück hob die Hand und Eva beugte sich zu ihm herab. »Holen Sie uns jetzt etwas, Schwester! Wir wollen gemeinsam einschlafen!« Wieder eine Pause, um zu Atem zu kommen. »Ich will nicht, dass sie leidet. Machen Sie schnell! Und dann gehen Sie selbst. Nehmen Sie Antibiotika mit, soviel Sie tragen können und Schmerzmittel, das werden Sie in Ihrem Wellendingen brauchen.«
Eva blieb am Bett stehen.
»Ich hole mir selbst etwas!« Olga Glück stand auf und ging auf den Flur. Sie sah sich um.
»Sie haben gewonnen.« Eva folgte ihr, das Gesicht weiß wie ein leeres Blatt Papier. Sie war unglücklich. Traurig. Resigniert. »Ich hole Ihnen, was Sie brauchen.«
Sie ging in den Apothekenraum, ein schmales Zimmer mit kleinen, mittleren und großen Schubladen vom Boden bis zur Decke. Eva kletterte eine Schiebeleiter hinauf und nahm zwei kleine Fläschchen aus einem Fach. Aus dem Kühlschrank holte sie einen kleinen Mauserkasten mit verschiedenen Ampullen, dazu zwei Flaschen Infusionslösung. Eva weinte und wischte sich mit dem Unterarm die laufende Nase ab. Zurück an Glücks Bett stach sie Olga eine Infusionsnadel in die Ellenbeuge. Dunkle Blutstropfen perlten heraus, bevor Eva die Infusion anschloss, dann legte sie einen kleinen Verband an. Anschließend erneuerte sie die Infusion an Aleksandr Glücks Arm. In beide Flaschen mit Kochsalzlösungen spritzte sie den Inhalt von jeweils drei kleinen Ampullen, ohne aber die Infusionsleitung zu öffnen. Danach zog sie eine milchige Flüssigkeit in zwei kleine Spritzen auf und setzte diese auf eine kleine Öffnung, wo die Infusionsnadeln aus den Armen ragten.
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