Rattentanz
Dieselbe Menge des Medikamentes gab sie außerdem noch in die Infusion, die sich schnell trüb verfärbte.
»Das Weiße da in den beiden Spritzen ist ein Schlafmittel. Wenn Sie sich das gespritzt haben, werden Sie innerhalb von Sekunden einschlafen.« Eva klang tonlos und sie vermied jeden Blickkontakt mit dem Ehepaar. »Hier oben in den Infusionen ist ein Mittel, das Ihre Mus kulatur lähmt, also auch den Atemmuskel. Sie müssen den Infusionsschlauch so abknicken und in der Hand halten«, sie machte es den beiden, die ihr aufmerksam zusahen und jedes Wort aufsogen, vor, »dann drehen Sie die Infusion hier auf. Erst dann spritzen Sie sich den Inhalt der Spritzen da.«
»Was geschieht dann?«
»Sie werden einschlafen. Und sobald Sie eingeschlafen sind, werden Ihre Finger die Infusionsleitung loslassen und die Lösung tropft rasch in Sie hinein. Und damit auch das Mittel, das Ihre Atmung lähmt.« Sie räusperte sich und sah zur Decke. Tränen rannen ihr über die Wangen. »Sie ersticken, ohne etwas davon mitzubekommen.«
»Das ist gut, meine Kleine. So ist es gut.« Aleksandr Glück nickte.
»Warum mache ich das?!«, schrie Eva plötzlich. Sie schluchzte.
»Warum? Ich kann das nicht! Nein, ich will Sie nicht umbringen!« Sie wollte nach der Spritze an Glücks Ellenbeuge greifen aber Beck zog sie zurück und ging mit ihr in den Apothekenraum.
»Was sollen wir mitnehmen?« Er betrachtete die Unzahl Medikamente und hielt Eva am Handgelenk fest.
»Lassen Sie mich!« Eva versuchte sich zu befreien. »Bitte. Lassen Sie mich los. Ich darf das nicht zulassen! Nein, ich bin keine Mörderin.« Sie sank neben Beck auf die Knie.
»Sie sind keine Mörderin.« Beck kauerte sich neben sie und nahm Eva in die Arme. »Ganz bestimmt nicht. Die Männer da drüben sind Mörder, aber Sie doch nicht. Aber für Glück und seine Frau ist es so das Beste. Sie werden sterben, so oder so. Sie machen ihr Sterben nur menschlich, mehr nicht. Und jetzt«, er stand auf, »jetzt sagen Sie mir, was ich einpacken soll.«
»Antibiotika.« Eva schluchzte, ließ sich von Beck hochziehen und zog einige Schubladen auf. Beck stopfte Tablettenschachteln und klei ne Infusionsfläschchen mit weißem Pulver in einen Plastiksack.
»Keine Infusionen«, unterbrach ihn Eva. »Wann immer wir das Zeug brauchen, werden wir nichts zum Auflösen und auch keine Infusionsnadeln haben.« Sie öffnete weitere Schubladen und Beck packte alles ein, was sie ihm zeigte. Dann rannte sie aus dem Raum, zurück zu Olga und Aleksandr Glück.
»Gehen Sie zu ihm, Schwester. Er will Ihnen Lebewohl sagen«, empfing sie Olga Glück.
Eva beugte sich über Glück, aber statt seine geflüsterten Worte zu hören, spürte sie nur den trockenen Kuss seiner zitternden, rissigen Lippen. Er weinte tonlos und in seinen alten Augen leuchteten Dankbarkeit und Ruhe. Er hatte seinen Frieden gefunden, einen Frieden, den Eva nach diesem Tag lange würde suchen müssen.
»Danke, Schwester!« Olga Glück nahm Eva in die Arme. »Manchmal kann man sein wie eine Held, wenn man eine Menschen das Sterben macht möglich. Sie machen uns wirklich sehr, sehr glücklich, Schwester. Danke.« Auch sie küsste Evas Wange, dann schob sie die Krankenschwester Richtung Tür. »Passen Sie gut auf die Schwester auf«, sagte sie zu Beck.
Der nickte und Olga Glück war zufrieden.
47
15:07 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen
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Eva Seger und Joachim Beck verließen am Nachmittag kurz nach drei die Intensivstation des Donaueschinger Krankenhauses. Zur gleichen Zeit legte sich Olga Glück zu ihrem Mann in das schmale Krankenbett. Sie gab ihrem Mann den abgeknickten Infusionsschlauch in die Hand und öffnete den Rollverschluss. Den selben Vorgang wiederholte sie bei sich. Dann legte sie seine freie Hand auf die Spritze, die das milchige Narkosemittel enthielt. Beide sahen sich an. Sie waren zufrieden. Sie waren glücklich und gaben sich einen letzten Kuss.
»Ich liebe dich!«, flüsterte Aleksandr Glück.
»Ich liebe dich!«, antwortete seine Frau.
Gleichzeitig drückten sie den Inhalt der Spritzen in ihre Venen und schliefen Sekunden später Wange an Wange ein. Ihre Finger entspann ten sich und gaben die Infusionsschläuche frei. Schnell tropfte der Tod in ihre Körper.
Im letzten Sommer, an einem der wenigen Tage, an denen seine Stimmen den Mund hielten und sich vielleicht ihren eigenen Gedanken hingaben (konnten Stimmen denken?), war Thomas Bachmann allein mit dem Fahrrad vor die Tore Donaueschingens
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