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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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gefahren. Er war am frühen Morgen aufgebrochen, ziellos und ohne zu wissen, wohin es ihn trieb. In seinem Kopf herrschte angenehme Ruhe, niemand, der ihm Vorhaltungen machte, niemand, der kritisierte. Thomas war die junge Donau entlang nach Pfohren und Neudingen gefahren. Am Vorabend hatte es ein kurzes Gewitter gegeben und die Morgensonne schien matt durch tief liegende Nebelschwaden. Still und träge strömte zu seiner Linken der Fluss und Geisterfingern gleich zogen magere Bäume vorüber.
    Er hatte soeben Neudingen und die Kuppel der Fürstengruft hinter sich gelassen, als er plötzlich ein regelmäßiges Klopfen hörte, ganz schwach nur, aber es war da: Klock-klock. Klock-klock-klock. Zuerst dachte Thomas, das Geräusch käme aus seinem Kopf. Er dachte an einen Streich seiner Stimmen. Er fuhr langsamer und konzentrierte sich. Klock-klock. Das Geräusch aber war real und es kam von außen. Und es kam näher.
    Er stieg vom Fahrrad, legte es ins nasse Gras am Wegrand und war dem Geräusch bis unmittelbar ans Ufer des Flusses gefolgt. Vor ihm ragte dort ein schmaler Steg etwa einen Meter ins Wasser, darunter, von altem Schilf nur oberflächlich getarnt, eine längliche, schmale Holzkiste. Sie hing zur Hälfte im Wasser und das Geräusch kam zweifelsfrei aus ihrem Inneren.
    Klock-klock-klock.
    Thomas hatte sich auf den Bauch gelegt und sich dabei gewundert, dass niemand in seinem Kopf protestierte. Er löste vorsichtig die beiden Haken, die den Kasten unter dem Steg hielten, und zog die tropfende Kiste an Land. Als er die kleine Tür am schmalen Ende des Kastens öffnete, sprang ihm eine junge Bisamratte entgegen. Thomas ließ die Kiste fallen und das Tier rannte zuerst orientierungslos im Zickzack über die Wiese, dann stürzte es sich kopfüber in den Fluss. Ihr stetes Klock-klock-klock hatte der Bisamratte damals das Leben gerettet.
    Thomas tastete nach seiner halbvollen Thermosflasche.
    Eva lief vor dem Polizisten her zum Klinikparkplatz. Seit beide die Intensivstation mit Medikamenten und zwei kleinen Taschenlampen beladen verlassen und damit Olga und Aleksandr Glück ihrem gewissen Schicksal überlassen hatten, war sie in sich gekehrt und sagte kaum mehr als das Nötigste. Im dunklen Kellergeschoss der Klinik hatte sie sich an ihrem Kleiderschrank umgezogen. Danach war Beck in die Küche, um Lebensmittel zu holen, während sie vor der Tür wartete. Die Erinnerungen an letzte Nacht, in der sie Ritter, Mehmet und Fuchs hier überrascht hatte, waren noch zu frisch. Sie wollte nur noch weg, weit weg. Nach Hause. Zu Lea. Die Aussicht, an diesem Abend vielleicht schon wieder in Wellendingen zu sein, Lea in die Arme zu nehmen und im eigenen Bett zu schlafen, diese Aussicht gab ihr Kraft und ließ sie alles andere ertragen – ihre Übelkeit (ich bin wieder da), Aleksandr Glück und seine Frau und auch das Bild des Koches, das einfach nicht mehr aus ihrem Kopf wollte. All das konnte sie ertragen, aber nicht vergessen.
    Vor Eva Seger und Joachim Beck lagen zweiunddreißig Kilometer – ein Nichts bis gestern Morgen, heute ein Abenteuer. Sie hofften, Wellendingen mit etwas Glück zügig zu erreichen, ihnen war aber auch bewusst, dass die Welt von heute nicht mehr mit der Zeit vor dem 23. Mai vergleichbar war. Zu viel hatte sich in wenigen Stunden geändert, zu einschneidend waren diese Veränderungen, als dass einer von beiden mit einer problemlosen Reise rechnete.
    Es war ein Wunder, dass das Krankenhaus bisher von Plünderungen verschont geblieben war. Offensichtlich rangierten Medikamente und Lebensmittel momentan noch hinter Flachbildschirmen, Bargeld und Schmuck in der Plündererhierarchie. Noch.
    Joachim Beck fand in der Küche Brote und Konserven, er fand die Leiche des Koches. Und er fand seine Dienstpistole! Sie lag im Aufenthaltsraum der Küche halb verborgen unter der vorerst letzten Ausgabe der BILD-Zeitung (23. Mai), auf deren Titelseite eine vollbusige Schönheit dümmlich ins Leere lächelte. SKANDAL, stand fett daneben, RENTENBEITRÄGE STEIGEN WEITER. Schön wär’s, dachte Beck und steckte seine Waffe in den Gürtel. Zwei Schuss befanden sich noch im Magazin.
    An Evas Kleinwagen waren alle vier Reifen zerstochen. Außerdem hatte jemand den Tankdeckel aufgebrochen und die Windschutzscheibe und das Beifahrerfenster eingeschlagen. Fassungslos starrte sie auf ihr Auto. Der Wagen war sieben Monate alt, der erste Neuwagen ihres Lebens und leuchtend gelb, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Glitzernde

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