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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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sie, entzog Eva ihre Hand und beugte sich über ihren Mann. Sie küsste dessen feuchte Stirn. Kalter Schweiß drang aus seinem Körper. Er roch nur noch we nig nach dem Mann, neben dem sie täglich eingeschlafen und aufge-wacht war. Ein neuer, ein fremdartiger Geruch war dazugekommen. »Er wird sterben«, sagte Olga Glück. Eine Feststellung, keine Frage. Sie setzte sich auf den Stuhl, den Eva ihr neben das Bett stellte und betrachtete ihren schlafenden Mann. Der war blass, unsäglich blass und sah müde aus, selbst jetzt noch, während er schlief. Sie nahm mit beiden Händen seine Rechte und küsste seine Finger, die Handfläche und den billigen Messingring, den er seit mehr als fünf Jahrzehnten ununterbrochen trug.
    Sie hatte die vergangene Nacht kaum geschlafen, ein paar Stunden erst am Morgen, als es in der Stadt endlich etwas ruhiger geworden war. Am Küchentisch war sie eingenickt, mit Kopftuch und Mantel und ihrer Tasche vor sich auf dem Küchentisch. Gestern Abend hatte sie ih ren ersten Versuch, ins Krankenhaus zu gelangen, nach wenigen Hundert Metern abbrechen müssen. Betrunkene Soldaten schossen der alten Frau dicht über den Kopf und lachten. Die Projektile waren in der Fensterfront eines geplünderten Bekleidungsgeschäftes eingeschlagen.
    Gegen Mitternacht hatte sie es ein zweites Mal versucht, aber diesmal gelang es ihr nicht einmal mehr, das dunkle Sechsfamilienhaus zu verlassen. Im Treppenhaus saßen Jugendliche, halbe Kinder noch. Sie rauchten bei Kerzenschein gestohlene Zigaretten, tranken Wein, hörten bis kurz nach drei Musik aus einem tragbaren CD-Player (dann waren die Batterien aufgebraucht) und bewarfen Olga Glück mit leeren Flaschen, als diese aus ihrer Wohnungstür trat.
    Heute Mittag startete sie ihren letzten Versuch.
    Sie hatte ein letztes Mal den schmalen Flur ihrer Wohnung betrach tet. An den Wänden klebte vergilbte Blumentapete und am gegen überliegenden Ende stand ein kleines Schränkchen mit einem weinroten Telefon. Der Hörer lag daneben, als wollte jemand nicht gestört werden. Sie hatte das sinnlose Ding, nachdem sie wieder und wieder nach einem Ton am anderen Ende der Leitung gelauscht hatte, so hingelegt.
    Ticktack zählte im Wohnzimmer das Pendel einer billigen Kuckucksuhr die Zeit. Das Gewicht, ein bronzen gefärbtes Tannenzapfenimitat, hatte fast den Boden erreicht. Die schweren Vorhänge waren zugezogen und sperrten die unfreundliche Welt und die milde Maisonne aus.
    Alles war so sinnlos geworden.
    Aufgereiht wie Orgelpfeifen standen bunte Matroschkafiguren in einem Glasschrank und auf dem niedrigen Tisch vor der Couch ein Samowar. Ein Stück Heimat, wo keine Heimat mehr war, Erinnerungen, sorgfältig gehütet und gehasst. Ergab es einen Sinn, hier zu sein, hatte sie sich wieder und wieder gefragt. Warum war sie nicht längst bei ihrem Mann?
    Die Tür zum Badezimmer stand offen, ein kleiner Raum mit braunen Kacheln und moosgrüner Wanne und Waschbecken. Der Spiegelschrank war staubblind, die Vorhänge zugezogen. Auf der Straße sah sie dann ein Mädchen mit einer Schaufensterpuppe spielen. Sie spielte gedankenverloren, während die Welt um sie her unterging, wie die Tanzkapelle auf der Titanic.
    Die Tabletten, die sie und Aleksandr Glück in den letzten Jahren sorgsam gesammelt hatten, lagen noch daheim auf dem Küchentisch, akkurat aufgereiht neben einem Glas mit abgestandenem Wasser.
    »Wird Aleksandr noch einmal aufwecken?«
    Eva trat zu Olga Glück ans Bett.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Er war vor zwei Stunden das letzte Mal wach. Seitdem schläft er.«
    »Wir immer gemeinsam sterben wollten«, begann Olga ohne aufzusehen und streichelte Aleksandr Glücks Hand. »Wissen Sie, Schwester, wir haben Tabletten zu Hause, die wollten wir zusammen nehmen, wenn einer ist so krank, muss er bald sterben.«
    »Ich weiß. Er hat es mir erzählt.«
    »Hat er das. Soso.«
    »Möchten Sie etwas trinken? Wir haben noch ein paar Flaschen Mineralwasser.«
    Olga Glück sah auf und nickte. Sie leerte das Glas, das ihr Joachim Beck brachte. Die letzten Tropfen träufelte sie auf ihre Fingerspitzen und benetzte damit Glücks Lippen.
    »Es ist gut, dass Sie da sind. Er hat sich nichts mehr gewünscht und immer wieder nach Ihnen gefragt.«
    »Jeder von uns wäre völlig allein, wenn stirbt der andere, Schwester. Wir haben niemanden hier.«
    »Und Ihre Söhne? Ihr Mann erzählte, dass Sie zwei Söhne haben.«
    Olga Glücks Augen füllten sich schlagartig mit Tränen.
    »Sind

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