Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
tot«, flüsterte sie schließlich. »Nikolaj und Wanja sind schon viele Jahre tot.«
    Eva kam sich plötzlich schäbig vor. Hatte sie den Schmerz der alten Frau mit ihrer albernen Frage wieder wecken müssen? Sie hatte doch gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte, als Glück ihr gestern auf dieselbe Frage ausgewichen war. Sie ging leise um Glücks Bett herum zur Tür.
    »Wanja war der jüngere von beiden«, begann Olga Glück und Eva blieb stehen. »Und er spielte Geige wie kein Zweiter. Sie müssen wissen, Wanja hatte Hände wie Porzellan; schneeweiß und zart, so zart wie Blütenblätter am Morgen. Er hatte die Geige als Vierjähriger von einem alten Mann im Dorf geschenkt bekommen, Schwester. Der hatte Gicht und konnte nix mehr spielen und unser Wanja hatte das Instrument immer angestarrt, wenn er einmal bei ihm war. Der Alte brachte Wanja das Spiel bei und ganz schnell sausten seine winzigen Fingerlein bald über die Saiten. Oh, er konnte spielen, Schwester, das haben Sie noch niemals nicht gehört. So traurig, so unsagbar traurig spielte er, obwohl er noch so klein war und noch nie etwas Trauriges erleben hatte gemusst. Die Traurigkeit lag einfach in ihm. Melancholie, haben sie später gesagt, die Melancholie hat ihn umgebracht. Seine Traurigkeit hat ihn auf den verfallenen Kirchturm in unserem Dorf getrieben und springen lassen. Da war er gerade zwölf. Gerade zwölf. Mit Händen, die noch so klein und so zerbrechlich waren. So fein wa ren sie gewesen. Nikolaj hat niemals nicht verwunden, dass er war nix da an diese Tag. Sonst waren sie unzertrennlich, aber an diese Tag war Nikolaj allein in den Wald gegangen, um nach einem Stück Holz zu suchen. Besonderes Holz, wissen Sie«, sie küsste Glücks Hand, »Holz, aus dem er Wanja etwas zum Geburtstag schnitzen wollte. Aber als er kam zurück aus Wald, war sein kleines Bruder tot. Nikolaj war seit diese Tag nicht mehr dieselbe. Er wurde mager und sah krank aus. Und zwei Jahre später starb er an Lungenentzündung und verließ uns. Ich glaube, er wollte lieber bei seine kleine Bruder sein.«
    Olga Glück setzte sich aufrecht hin und sah zu Eva herüber, die noch immer an der Tür lehnte. Ihr liefen Tränen über die Wangen.
    »Darauf haben wir uns seitdem immer gefreut: irgendwann einmal gemeinsam sterben zu dürfen und dann endlich unsere Söhne wieder in die Arme zu halten!« Sie wandte sich wieder ihrem Mann zu und lächelte müde, aber glücklich. Dann bekreuzigte sie sich. »Der Herrgott wird uns zusammensein lassen. Dann sind unsere Kinder nicht mehr allein, Kinder sollten nix allein sein, nix ohne ihre Mama, nix ohne Papa. Auch nicht im Himmel beim Herrgott.«
    Eva atmete tief durch, musste sich zwingen, ins Jetzt und Heute zurückzukehren. Kinder sollten nicht allein sein … Sie musste los, Lea wartete.
    Die alte Frau fuhr fort: »Ich fürchte mich nicht vor dem Tod, Schwes ter, der kann mir keine Angst mehr machen! Im Gegenteil: der Tod wird mir meine Kinder geben zurück, meinen Wanja und meinen Nikolaj. Schlimm wäre es, allein hierbleiben zu müssen und auf den Tod zu warten. Das wäre wirklich schlimm.«
    Joachim Beck, der im Aufenthaltsraum gesessen hatte, trat hinter Eva.
    »Wir müssen los«, flüsterte er.
    »Aber ich kann doch jetzt nicht …«, sie sah zuerst zu Aleksandr Glück, dann zu seiner Frau.
    »Doch«, sagte Beck. »Sie müssen sogar. Sie wollten warten, bis sei ne Frau hier ist. Sie ist jetzt da. Und ich werde Sie nach Wellendingen zu Ihrer Tochter begleiten.«
    »Der Mann hat recht, Schwester«, Olga Glück erhob sich und kam zu Eva und Beck an die Tür. Jetzt nahm sie die Hand der Krankenschwester. »Sie dürfen wegen uns nicht bleiben hier! Gott allein weiß, was noch alles geschieht. Uns kann niemand mehr helfen, wir sind am Ende von unsere Weg angekommen.«
    »Aber was soll aus Ihnen werden, wenn wir weg sind? Es wird bestimmt nicht mehr lange dauern und es werden Leute kommen, auf der Suche nach Medikamenten oder Nahrung. Und hier liegt alles vol ler Leichen und nebenan, in einem der Operationssäle, sind drei Verbrecher eingesperrt. Was ist, wenn die sich befreien und Sie hier finden?«
    »Ich bleiben bei meine Mann, Schwester. Und wenn er gestorben, werde ich an einen Medikamentenschrank gehen und ich werde jede Tablette nehmen, die ich finde. Und dann werden ich meinem Mann folgen.«
    »Aber Sie werden sich übergeben bei so vielen Tabletten! Sie werden alles wieder ausbrechen!« Und dann hilflos hier liegen und verdurs ten

Weitere Kostenlose Bücher