Rattentanz
auf den Beinen halten. Ihre Augen hatten geglüht, aus jeder Pore drang kranker Schweiß. Flüssigkeitsmangel und Fieber führten dazu, dass sie Mühe hatte, ihre Eltern wiederzuerkennen. Im - mer wieder fiel sie in einen unruhigen Halbschlaf, fantasierte und als Petra Sutter ihr am Morgen das Gesicht wusch, fühlte sie den unrhythmisch dahingaloppierenden Puls ihres Kindes.
Das wenige Essbare, das sie noch im Haus hatten, legten sie für Jessika zurück, für Morgen oder Übermorgen, wenn es ihr endlich etwas besser ginge, oder gaben es ihrem Bruder.
Am späten Vormittag schließlich, das Fieber schien immer weiter und weiter zu steigen, wusste Sutter sich nicht mehr zu helfen. Er ging drei Häuser weiter und klopfte an der Tür von Frederike und Roland Basler. Frederike öffnete. Kauend und mit fettigen Fingern sah sie ihn an.
»Hallo Rike. Ist Roland da?« Frederike nickte, bat ihn mit einer Handbewegung zu warten und verschwand wieder im Haus. Wenig später kam Basler. Auch er schien gerade gegessen zu haben. Während er auf Sutter zuging, suchte sein Finger noch nach einer Fleischfaser zwischen den Zähnen. Mit lautem Schmatzen zog er Speichel zwi schen den Zähnen hindurch, dann wischte er sich die Hände an der Hose ab und begrüßte den Besucher.
»Lorenz, was treibt dich zu mir? Willst du mir auch zur Wahl gestern gratulieren? Waren schon einige da heute Morgen, vor allem nach dem Einbruch beim Winterhalder letzte Nacht. Warst du gestern in der Krone? Kann mich gar nicht erinnern, dich gesehen zu haben.«
Sutter schüttelte den Kopf.
»Na, nichts für ungut. Trotzdem danke, dass du gekommen bist!« Und Basler, der dachte, er habe den Besucher abgewimmelt, wollte sich in den Schutz seines Hauses zurückziehen.
»Warte. Warte, Roland. Ich bin wegen Jessika da. Sie ist krank.«
Obwohl Basler anzumerken war, dass er die Geschichte eigentlich nicht hören wollte, erzählte Lorenz Sutter von Jessikas Fieber, ihren Durchfällen und dass sie weder Medikamente noch ausreichend Nahrungsmittel hatten. »Kannst du uns helfen?«, fragte er Basler zuletzt.
»Wie?«, fragte der zurück. Er kratzte sich im Nacken. »Ich weiß nicht, was ich da machen kann.«
»Ich dachte«, begann Sutter endlich und es war ihm sichtlich unan genehm, »ich dachte, ihr habt vielleicht noch etwas zu essen da, wenigstens für die Kleine.«
»Ich denke, sie bricht alles sofort wieder aus?«
»Schon, aber irgendetwas müssen wir doch tun. Ich wollte ihr eine Brühe kochen, nur haben wir kein Fleisch. Und Medikamente, die ih ren Durchfall stoppen, auch nicht und allein mit Wadenwickeln be-kommen wir das Fieber nicht runter. Vielleicht habt ihr irgendwelche Arznei da, die ich haben könnte?« Lorenz Sutter stand mit hängenden Schultern vor Basler und blickte ihn voller Hoffnung an. »Was meinst du, könnt ihr Jessika irgendwie helfen?«
Inzwischen hatte Basler die Fleischfaser zwischen seinen Zähnen gefunden. Jetzt hing sie an seinem Fingernagel. Er betrachtete sie zufrieden, dann leckte er sie ab. »Oh Lorenz«, begann er endlich und schob Sutter vor sich her zu einer kleinen Bank vor dem Haus. »Wenn du wüsstest, wer heute Vormittag bereits alles hier war und Hilfe woll te. Plötzlich scheint jeder zu denken, nur weil ich jetzt unserem Rat vorstehe, wüsste ich auf jedes Problem eine Antwort oder hätte die Lösung am besten schon im Keller parat liegen. Hab ich aber nicht, Lo renz.« Er fühlte sich satt und zufrieden und hatte Sehnsucht nach einem kleinen Mittagsschläfchen. »Es ist sicher schlimm, das mit deiner Kleinen. Aber die wird schon wieder. Für die nächsten zwei, drei Tage wirst du schon irgendwo etwas Essbares auftreiben und spätestens dann läuft der Laden hier wieder«, sagte Basler.
»So, wie Jessika in ihrem Bett liegt, weiß ich nicht, ob sie das dann noch erlebt, wenn ihr keiner hilft.« Aus Sutters übernächtigten Augen stahlen sich Tränen, die er verlegen wegwischte.
»He«, sagte Basler plötzlich ernst, »nicht auf die Tour, klar? Ich bin ganz bestimmt der Letzte, der nicht alles hergibt, wenn andere in Not sind. Aber im Augenblick habe ich selbst nur das Nötigste, Lorenz. Also komm mir jetzt bitte nicht mit deinen Krokodilstränen!« Er stand auf und Sutter tat es ihm nach. »Warst du schon mal bei den an deren in der Nachbarschaft? Oder frag doch mal bei Albickers oder unten in der Krone. Dort kann dir bestimmt jemand helfen. Tut mir leid.« Er gab dem Bittsteller noch einen Klaps auf die Schulter,
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