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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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brauchst, komm einfach vorbei. Ja?«
    Bei ihrer Rückfahrt durch das Dorf sahen sie Bardo Schwab bis zu den Knien im Ehrenbach stehen. Vom trockenen Ufer aus redete der Pfarrer auf ihn ein. Schwab winkte den Vorbeifahrenden zu und zeigte stolz auf die kleine Staustufe, die er mit vier anderen am Vormittag hier errichtet hatte. Faust hupte.
    »Wenn man so sieht, was wir hier alles unternehmen, könnte man meinen, wir wären allein auf dieser Welt«, sagte Mettmüller. Vom Hardt, wo inzwischen alle Arbeiten abgeschlossen waren, tuckerte der ausgeliehene Bagger zurück zu Sven-Waldemar Wünsches Baustelle und Klara Hall zog eine von Albickers widerspenstigen Kü hen hinter sich her vom Bach zurück Richtung Stall. Die Tiere hatten ihr Lebtag den Stall noch nicht verlassen und reagierten dementsprechend panisch auf die ungewohnte Freiheit. Sie rannten in wilden Bocksprüngen umher und waren kaum noch zu bändigen, weshalb man schließlich darauf kam, die Tiere – nur die ersten zwei oder drei Tage, bis sie sich an den neuen Lebensraum gewöhnt hatten – einzeln zur Tränke zu führen.
    »Was meinst du mit ›allein auf dieser Welt‹?«, fragte Faust.
    »Isolation. Abschottung. Stell dir vor, einer, der nichts vom 23. Mai weiß, kommt hier vorbei und sieht uns. Der denkt doch, ein paar zivilisationsmüde Aussteiger versuchen hier, koste es was es wolle, einen auf autonomes Dorf zu machen oder so.«
    »Wollen wir ja auch. Oder besser, wir müssen.«
    »Ich weiß«, sagte Mettmüller, »aber seltsam ist es trotzdem. Weißt du, es ist fast, als ob wir diesen ganzen Mist mit den Flugzeugen, dem Strom und Wasser und Telefon irgendwie aufwerten, indem wir uns mit den Verhältnissen arrangieren. So lange ich gestern und vorgestern noch tatenlos dasitzen konnte und gewartet habe, dass irgendwer alles wieder richtet, so lange war dieser Zustand nur ein Unfall, mehr nicht.«
    »Ein Unfall, der repariert wird und alles geht wie gewohnt weiter«, sagte Faust und steuerte seinen Wagen an den Straßenrand. Sie hatten die Kreuzung erreicht, an der sie den ersten Baum fällen wollten. Faust stellte den Motor ab, beide blieben aber sitzen.
    »Indem wir unser Leben selbst in die Hände nehmen geben wir zu, dass einerseits diese Katastrophe wirklich geschehen ist und andererseits, dass wir nicht in der Lage sind, alles wieder geradezubiegen. Der alte Weg, unser gewohnter Weg, ist unpassierbar geworden und weil wir ihn nicht freiräumen können, bauen wir uns eben einen anderen Weg. Mit jeder Minute, die vergeht, mit jeder Aktivität, entfernen wir uns mehr vom Alten. Wir machen Dinge wie die Vertreter einer primitiven Urwaldgesellschaft und vor allem – diese ganze Abschottung und selbst gewählte Isolation ist doch genau das Gegenteil von dem, was bisher Usus war. Alles drehte sich um Mobilität und Freiheit und Informationen. Und jetzt?« Mettmüller stieg aus und nahm die Kettensäge vom Wagen. »Jetzt sägen wir fleißig Bäume um, damit ja keiner unser schönes Dorf betritt, lustig, nicht?« Der Motor heulte auf, Mettmüller klappte das Visier am Helm herunter und setzte das Sägeblatt an eine riesige Tanne.
    Lorenz Sutter lebte mit seiner Frau Petra und den Kindern Marvin und Jessika in einem kleinen Haus im Neubaugebiet Wellendingens. Die achtjährige Jessika hatte seit gestern Morgen Durchfall und erbrach sich, inzwischen aber wenigstens nur noch stündlich, und nur noch galligen grünen Schleim.
    Die ganze Nacht hatten die Eltern an ihrem Bett gesessen, abwechselnd kurz im Sitzen geschlafen und feuchte Tücher auf Jessikas Stirn und um ihre Beine gelegt. Die beiden Eimer, die neben dem Bett standen, mussten heute nur noch selten geleert werden, im Körper des Kindes gab es kaum noch etwas, das auf dem einen oder anderen Weg hinausgelangen wollte. Nur schien dies ihr glühender Körper selbst nicht zu wissen. Immer wieder würgte sie oder setzte sich auf den Plastikeimer, von heftigen Bauchkrämpfen gezwungen.
    Sutter hatte in der Nacht über einem kleinen Feuer hinter seinem Haus Wasser, das er in zwei Gießkannen aus dem Ehrenbach geholt hat te, abgekocht und seiner Kleinen Kamillentee bereitet, aus Teebeuteln, die mittlerweile aufgebraucht waren. Auch die Zwiebackpackung war leer, ohne dass es auch nur ein Bissen länger als fünf Minuten in Jessikas Körper ausgehalten hätte. Medikamente besaßen sie keine und Ärzte waren unerreichbar fern.
    Das Kind war am Morgen das letzte Mal aufgestanden und konnte sich da kaum noch

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