Rattentanz
so unendlich viel durch den Kopf, zu viel, um es noch sortieren zu können. Da waren zum einen das Tropfgeräusch und der Nachhall des Donners. Und natürlich waren da auch noch seine allgegenwärtigen Stimmen. Es waren aber auch eigene Gedanken in seinem Kopf, sofern er zwischen eigenen und von den Stimmen angestoßenen Gedanken überhaupt noch unterscheiden konnte. Er lag nackt fest in seine dünne Decke gewickelt und fror.
Seit er den Aufzug verlassen hatte, waren seine Stimmen noch lauter geworden. Frech fast, als gehöre sein Kopf inzwischen ihnen. Beinahe sehnte sich Thomas nach seinen Medikamenten. In der richtigen Dosierung hatten sie es fertiggebracht, genau den goldenen Mittelweg zwischen Ruhe (zu viel) und Chaos (zu wenig) zu finden. Aber er wusste, dass etwas geschehen war, was die gewohnte Welt um ihn he rum vollkommen verändert hatte. Und Veränderungen, wenn sie zu schnell und zu plötzlich kamen, waren laut Dr. Meier nicht gut für ihn. Es hatte sich viel verändert. Seine Eltern und ihr Haus waren verschwunden. Aber die Knöpfe waren noch da! Er hatte keine Medikamente mehr, aber er hatte seine Tasche. Er schmiegte sich an sie, spürte das warme Schwarz an seiner Wange, ein Kopfkissen.
Er war gespannt, wohin Eva ihn führen wollte. Denn Eva war die Führerin, der Mann lief ihr einfach nur hinterher. Normale Männer, überlegte es in Thomas, mussten irgendetwas haben, das sie zwang, Frauen nachzulaufen. Und Frauen mussten etwas besitzen, das normale Männer zum Laufen brachte. Er konnte beides nicht verstehen, gestand sich Thomas ein. Ein weiteres Indiz seiner Anormalität, würde Mutter jetzt sagen.
Thomas hatte Angst. Nichts war mehr so wie früher. Keine Medika mente, eine fremde Landschaft, kein Arzt. Kein Platz, an den er gehörte.
Dieser Platz sind wir. Nummer eins’ Stimme beruhigte ihn ein wenig.
Wenigstens hatte er in ihm so etwas wie einen Freund, einen, der in seinem Kopf aufpasste und darauf achtete, dass die beiden anderen nicht alles zerstörten.
Thomas schlief endlich ein, zusammengerollt wie ein Embryo im Mutterleib. Jedes Zeitgefühl war ihm längst abhanden gekommen. Jetzt schwitzte er und unter den fest geschlossenen Lidern wanderten seine Augen umher. Er hob eine Hand: »Nein, nein, ich will nicht«, wimmerte er im Schlaf. Aber die Fratze in seinem Albtraum fraß sich ganz nah an ihn heran und flüsterte: »Na, Kleiner, hast du Lust? Hast du Lust, mein Süßer?«
Er träumte von dem Tag, an dem er Nummer drei kennenlernte …
Sein Gang war steif und unsicher. Dies und sein Blick waren es, was damals die Jugendlichen gereizt hatte. Als Thomas sie auf der Parkbank sitzen sah, hatte er kurz gezögert, war dann aber doch weitergegangen, die Augen zu Boden gerichtet.
Nummer zwei protestierte aufs Heftigste: Musst du weitergehen? Sie lachen dich aus, merkst du das nicht? Sie lachen UNS aus!
Aber Thomas hatte noch die Worte seines Vaters im Ohr. Zusammen mit der Gratulation zu seinem achtzehnten Geburtstag hatte der ihm an diesem Morgen den Rat mitgegeben, sich den Gefahren des Le bens zu stellen. »Du bist jetzt erwachsen!«, so Vaters Worte. »Erwachsene − und noch dazu Männer! − laufen nicht davon. Sie stellen sich dem Ungewissen und wachsen daran. Deswegen auch erwachsen!« Dann kam der obligatorische Klaps auf die schmale Schulter seines missratenen Sohnes: »Vergiss nicht, ab heute bist du allein für dich verantwortlich!«, und sein dröhnender Bass, er sang seit Jahren im Männergesangsverein, lachte, als hätte er gerade einen guten Witz gehört.
»Weitergehen«, flüsterte Thomas an diesem Tag und beschleunigte seinen Schritt. »Weitergehen. Einfach weitergehen. Ich bin erwachsen.«
Die drei auf der Bank mochten in Thomas’ Alter gewesen sein, vielleicht ein Jahr jünger. Ein Mädchen und zwei Jungen. Zwei Männer. Zwei junge Männer. Sie langweilten sich. Thomas war augenscheinlich die ersehnte Abwechslung, die ein wenig Farbe in diesen tristen Nachmittag bringen konnte.
Thomas’ Eltern hatten ihn nach draußen geschickt. Vater wollte ungestört seinen gewohnten Mittagsschlaf halten und Mutter die Küche aufräumen und den Kaffeetisch vorbereiten. Zur Feier des Tages erlaubte Mutter, dass ihre gute Stube benutzt wurde. Zum Essen! Sie hatte eine Krümel-und Fleckenphobie, wie Vater es immer bezeichnete. Mit einem Handstaubsauger und dem allgegenwärtigen dunkelgelben, feuchten Tuch bewaffnet, patrouillierte sie nach jeder Mahlzeit durch das Haus und
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