Rattentanz
zum Strand. Es fehlten nur noch die eiser nen Schienen und schließlich die Lok. Auf die Schienen würde er verzichten, die Lok hingegen, sein Boot, wartete schon etwas oberhalb und fieberte der kommenden Schussfahrt ins Meer entgegen. Rollen lagen unter dem Boot, würden es empfangen und er selbst brauchte es nur noch den flachen Hang hinabzuschieben. Zwischendurch ein kurzer Halt, um das für den kompletten Weg fehlende Dutzend Rollen von hinten nach vorn zu tragen, dann wäre es geschafft. Eben noch Wanderer, in wenigen Augenblicken Lokführer und schließlich Kapitän.
Hans setzte sich in den Schatten der Veranda und schielte zu seinem Brot, nahm aber doch nur einen Schluck Wasser und verdrängte das Brot und WIE es zu ihm gekommen war. Er betrachtete die Bahnstrecke. Er würde aufpassen müssen, damit das Boot auf den ersten Metern nicht zu viel Schwung bekam. Einmal richtig in Fahrt, würde er es allein nicht mehr aufhalten können. Es würde sich nur wenige Meter vom Ufer in den Sand fressen und dort für immer und ewig liegen bleiben – ein einzelner Mann könnte es dann keinen Millimeter mehr bewegen.
Er trank und grübelte, wie er das Boot unterwegs stoppen könnte, als er sich plötzlich kerzengerade aufrichtete. Die Wasserflasche, blieb auf halbem Weg zu seinem Mund in der Luft stehen. Vom Nacken bis zu seinen Fußsohlen bildete sich Gänsehaut.
Seit er hier war, mittlerweile eineinhalb Stunden, hatte er keine Men schenseele gesehen. Und auch keine frischen menschlichen Spuren. Von den Abdrücken seiner eigenen, nackten Sohlen abgesehen lag der Strand glatt und jungfräulich, die beiden Hütten waren bei seinem Eintreffen verschlossen und verstaubt. Kein menschlicher Laut bisher, nichts. Und doch hätte Hans Seger in diesem Augenblick schwö ren können, dass er dort drüben zwischen den Büschen ein Gesicht gesehen hatte. Nicht lange genug um sagen zu können, ob Mann oder Frau, aber es war da, ganz kurz nur. Aber im selben Moment, in dem er es entdeckte, war es auch schon im Blattwerk verschwunden.
Er spürte sein Herz in der Brust hämmern. Ohne den Kopf zu bewegen, taxierte er die Entfernung zu seinen wenigen Habseligkeiten. Sie lagen neben dem Boot, zehn, vielleicht zwölf Meter mochten es bis zu ihnen sein. Bis zu seinem Messer.
Menschen konnten in der jetzigen Situation vielerlei bedeuten: Hil fe und Begleiter auf dem Weg zurück nach Deutschland. Ein Kamerad, ein Gesprächspartner vielleicht während der Überfahrt. Es konnte aber auch etwas ganz anderes passieren. Zu frisch war noch die Erinnerung an die Begegnung mit Nils Svensson, als er sich selbst so hinter einem Busch versteckt hatte und zu dem alten Mann und seinen Broten gier te!
Die Konserven, die er in der Hütte gefunden hatte, lagen für jeden gut sichtbar auf dem Verandageländer! Wie Blechbüchsen auf einem Jahrmarkt. Komm, schienen sie zu rufen, nimm einen Stein und hol uns hier runter! Wir gehören dem, der uns nimmt. Wegen dem ausgehungerten Typen da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, der hat uns auch nur gestohlen. Und ein Mörder ist er auch. Also los – hol uns.
Hans hätte sich ohrfeigen können. Er war in Narr! Wie konnte man nur so unachtsam sein, so blind? Andere Menschen hungerten ebenfalls! Nicht nur er. Er war nicht allein hier, auch wenn es an diesem Morgen danach ausgesehen hatte. Und wenn er, der vor über zehn Jahren seine Hand zum letzten Mal gegen einen anderen erhoben hat te (ein harmloser Schubser, mit dem er Martin Kiefer, Evas Exmann, aus dem Haus beförderte), wenn er in der Lage war, um ein Stück schimmliges Brot zu kämpfen, waren es andere auch!
Diese Erkenntnis war wie ein Schlag ins Gesicht. Bisher war er ohne Vorräte unterwegs gewesen, für Fremde ein Konkurrent, aber keine Beute − nichts an ihm, was sich zu holen lohnte. Dies hatte sich heute Morgen mit einem Schlag geändert. Für jeden Interessenten gut sichtbar, präsentierte er zum einen seine Schätze und zu allem Überfluss gleichzeitig auch noch seine Wehrlosigkeit. Wer auch immer da im Gebüsch sitzen mochte, für den gab es keinerlei Indiz, dass Hans Seger mehr als seine Fäuste zum Schutz der Auslage einzusetzen hatte. Besser ging’s nicht.
Was Menschen besonders gut können, ist zweifeln. Zweifeln an den eigenen Fähigkeiten, an den Worten eines anderen, an dem, was sie selbst gesehen haben. Oder meinten, gesehen zu haben.
Hans beobachtete das Gebüsch zwei, vielleicht drei Minuten in völliger Regungslosigkeit. Dann
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