Rattentanz
vorbeigekommen – wollte Achim das Obergeschoss erkunden. Je der von ihnen hatte bereits ein halbes Dutzend Flaschen geleert. Als Kiefer merkte, was los war, stürzte er seinem Gast hinterher und warf ihn hochkant aus dem Haus. Das war die einzige Situation an die er sich erinnern konnte, wo beinahe alles aufgeflogen wäre. Beinahe.
Fortan achtete er darauf, dass solche komischen Zufälle nicht wieder vorkommen konnten. Er baute am Zugang zum oberen Flur eine zusätzliche Tür ein und trug den Schlüssel zu dieser immer bei sich. Besser so, man wusste schließlich nie.
»Und wenn Hans nicht zurückkommt?« Kiefer ließ die Hand mit den Blumen sinken. »Du weißt, dass es Monate dauern kann, bis er wie der hier ist. Wenn überhaupt.« Auf diesen letzten Satz hatte er sich gefreut.
»Ich komme schon zurecht.« Evas Stimme zitterte. »Danke. War nett.« Sie schloss die Tür.
Kiefer betrachtete die Haustür mit dem bunten Salzteigschild. Hier leben, lieben und streiten Lea, Eva und Johannes Seger, hatten sie in den Teig eingeritzt und nach dem Backen mit dunkelblauer Farbe nachgeschrieben.
»Im Moment fehlt ja wohl einer«, knurrte Kiefer und ging. Nett, hatte sie seinen Besuch genannt, nett! Die Blumen ließ er einfach fallen.
Das zweite Stockwerk seines Reihenhauses bestand aus einem geräumigen Bad, seinem (und Evas) Schlafzimmer und zwei sogenannten Kinderzimmern. Er hatte sich immer zwei Kinder gewünscht, zwei Mädchen vielleicht.
Martin Kiefer ging an Albickers Stall vorbei. Der Stall hatte mittlerweile die Funktionen von Kirche, Gasthaus und Radio übernommen. Man kam nicht nur zum Melken, man kam auch, um Neuigkeiten zu erfahren. Und in diesen Tagen gab es immer etwas Neues. Wieder hatten heute zwei Familien Wellendingen verlassen. Und in Bonndorf, so war zu hören, waren vergessene Alte im Pflegeheim verdurstet.
Eines der Kinderzimmer, in denen nie ein Kind gewesen war, hatte Kiefer mit Bildern seiner Frau (sie würde immer seine Frau bleiben) tapeziert; Fotografien aus den vergangenen zehn Jahren. Als sie ihn verlassen hatte und er damit begann, sie zu beschatten, hatte er sich eine teure Spiegelreflexkamera gekauft. Dazu ein ausreichendes Teleobjektiv. Im Keller richtete er sich ein kleines Labor ein und, nach dem Besuch des Kurses »Entwickeln wie die Profis – schwarz-weiß Abzüge aus dem eigenen Labor« in der Bonndorfer Volkshochschule, entwickelte er die Ergebnisse seiner Detektivarbeit selbst – am Anfang mit mäßigem Erfolg, später immer professioneller.
Da waren Bilder, die sie beim Einkaufen zeigten oder wie sie gera de in ihr Auto stieg. Eva auf dem Fahrrad oder beim Friseur, am Geldautomaten und beim Joggen mit wehendem Haar. Es gab Bilder, die riesengroß ihr Gesicht zeigten, grobkörnig, manchmal unscharf, im Profil oder von vorn, aber immer nur sie, niemals Hans oder den Balg. Es war eine fast komplette Dokumentation ihrer letzten zehn Jahre. Der Betrachter sah, wie sich ihre Frisuren mit der Zeit änderten, erste Fältchen auftauchten, ihr Gesicht mit den Jahren an Ausdruck und Identität gewann. Alle Wände, die Tür und die gesamte Decke beider Zimmer waren mit Evas Konterfei tapeziert, an manchen Stellen hingen vier oder fünf Bilder übereinander und in den Ecken des Raumes, auf bunter Auslegware, stapelte Kiefer die weniger gelungenen Bilder von ihr.
Dunkle, schwere Vorhänge sperrten die Welt aus, denn hier wollte er ungestört sein, nur er und Eva.
Gegenüber der Tür, sodass es das Erste war, was er sah, wenn er den Raum betrat, hing in einem antikem, goldenen Rahmen ein besonderes Bild von ihr, von einem einzelnen Strahler beleuchtet. Vor fünf oder sechs oder sieben Jahren – wen interessierte das schon? –, kurz nachdem Eva und Hans in ihr so schmuckes Häuschen eingezogen waren, hatte er in ihrem Garten gelegen, versteckt hinter einem Haufen Bauschutt und einem Betonmischer, und gewartet. Kiefer wartete, bis die Nacht kam und ihm das An und Aus der Lichter im Haus ver riet, was wo geschah. Er konnte wenig erkennen, aber Eva – Hans Seger war in Schweden – dennoch in Gedanken auf ihrem Weg durch das Haus begleiten: zuerst nur ein schwach erleuchtetes Fenster, hinter dem bunte Farben flackerten, wo sie fernsah. Gegen neun ging ein Licht im Treppenhaus an, gefolgt von einem weiteren in einem anderen Raum (Küche?) und in umgekehrter Reihenfolge löschte sie die Lichter wieder. Sie hatte sich etwas zu trinken geholt. Halb elf (Richtig, ihre Zeit!) ging wieder das
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