Rattentanz
Gegenteil, dachte Kiefer.
Kiefer versuchte ein möglichst unverfängliches Lächeln und dachte dabei an Evas Mann. Täglich stellte er sich vor, wie er Hans zusammen schlagen würde, während Eva daneben stehen und zusehen müsste. Und danach wollte er sich um sie kümmern.
»Martin«, sagte Eva, »hab schon gehört, dass du jetzt hier im Dorf bist.« Der Besucher war ihr sichtlich unangenehm. Sie hatte im Moment weiß Gott andere Sorgen! Da war nicht nur das langsam aber un aufhörlich näher rückende Problem Hunger, das die Zähne fletschte und sich anpirschte. Lea hatte darauf bestanden, dass Eckard Assauer bei ihnen bleiben sollte. In Ordnung, warum nicht. Aber das war keine Dauerlösung, denn auch ein Eckard Assauer wollte essen und trinken und, wie Faust ihr erzählt hatte, war Roland Basler weder von Assauers Anwesenheit begeistert noch von der Ankunft der beiden Männer, die sie aus Donaueschingen mitgebracht hatte. Thomas und Joachim Beck.
Beck befand sich in einem labilen Zustand irgendwo zwischen Leben und Tod, wobei er dem Tod näher war als dem Leben. Als ihm Eva im Pfarrhaus die Wunden reinigte und verband, war ihr augenblick-lich klar, dass Beck keine Überlebenschance hatte. Die Frage war nur, wie lange sein Sterben andauern würde.
Heute Vormittag hatte sie drei Stunden im Pfarrhaus verbracht. Sie versuchte dem Polizisten etwas Suppe und Wasser einzuflößen, wusch ihn und wechselte gemeinsam mit Fräulein Guhl das Bettlaken. Mehr war nicht zu tun. Eva konnte ihm einzig das Sterben erleichtern und sie dachte sofort an Aleksandr Glück.
»Was willst du, Martin?«
»Gestern auf dem Hardt war nicht viel Zeit für eine Begrüßung«, sagte Kiefer. Er hielt ihr die Blumen hin. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich freue, dass du wieder hier bist. Und dass es dir gut geht. Und wenn du etwas brauchst«, er druckste herum wie bei ihrer ersten Begegnung, »wenn du Hilfe oder jemanden zum Reden brauchst, ich wohne unten in der Krone.«
»Danke. Aber ich komm schon zurecht«, sagte Eva. Die Blumen beachtete sie nicht. Martin Kiefer machte ihr noch immer Angst und seit er sie vergewaltigt hatte, war er für sie gestorben. Sie wollte nicht, dass er hier war und Hans nicht. Warum saß Kiefer nicht Tausende Kilometer entfernt? Wieso Hans?!
»Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist? Ich meine, es hat sich viel verändert in den letzten Tagen. Und als Frau, so ganz ohne Mann …«
»Keine Angst, Hans kommt zurück!« Es sollte selbstsicher und fest klingen, tat es aber nicht. Sie legte beide Hände auf ihren Bauch, als müs se sie das Ungeborene vor Kiefer beschützen.
Seit Eva ihn verlassen hatte, träumte Kiefer von ihrer Rückkehr. Und sie würde kommen, da war er sich ganz sicher! Am Anfang war er das jedenfalls. Nachdem aber Wochen, Monate und schließlich auch Jahre vergingen, ohne dass sie wieder, reumütig, wie er hoffte, vor ih rem gemeinsamen Haus erschien, nachdem sie wieder geheiratet hatte und Seger sie zu allem Überfluss auch noch geschwängert hatte, schwanden seine Hoffnungen. Aber völlig begraben wollte er sie nie. Er würde seine Chance erhalten, ganz bestimmt! Und diese neue Zeit jetzt wäre vielleicht diese Chance, auf die er so geduldig gewartet hatte. Man muss warten können und Geduld haben, aber nicht einschlafen dabei. Man muss hellwach bleiben und zuschlagen können, wenn das Leben eine Gelegenheit vorbeiträgt. Diese Tage waren nun eine Gelegenheit, vielleicht die Gelegenheit. Hans Seger war weit weg und vielleicht schon lange tot, wer wusste das. Eva war schutzlos. Kiefer wusste, was allen noch bevorstand: Hunger, Krankheiten, Kampf. Die Sorge um das eigene Kind kann eine Mutter gefügig machen, dachte er.
Nach außen hatte Kiefer jahrelang den freundlichen Nachbarn, den zufriedenen Junggesellen und den sympathischen Zuhörer gegeben, den Mitmenschen, der immer genau wusste, wo den anderen der Schuh drückte. Er fegte pünktlich jeden Samstagvormittag den Gehweg vor seinem Haus – im Herbst auch öfter –, sorgte für einen tadellosen Vorgarten und, wie die Nachbarn rechts, links und gegenüber, für mit Geranien bestückte Blumenkästen an jedem Fenster.
Fremde ließ er all die Jahre nie in sein Haus, da war er eigen, und von seinem spärlichen Bekanntenkreis kannte keiner mehr als Küche, Wohnzimmer und Gäste-WC – alles Räume, die im Erdgeschoss seines zweistöckigen Hauses lagen.
Einmal – Achim und Harald, alte Schulfreunde, waren auf ein, zwei Bier
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