Rattentanz
nicht sorgsam angedockt, sondern wild durcheinander, als hätte eine Flutwelle sie da hingeworfen – hilflose Kolosse, ihrer Computersteuerung beraubt.
Nach einem letzten Kilometer verließen sie endlich die Stadt. Sie sahen sich um, aber die Straße hinter ihnen blieb leer. Niemand folgte ihnen. Und vor ihnen lag die Ostsee, still und geheimnisvoll und irgendwo dahinter Deutschland. Unerreichbar fern.
Malow bog links ab. Sie folgten durch die Dünen einem Trampelpfad, der sie bis an den Strand brachte. Dort endlich blieben sie stehen. Henning Malow legte Arme und Kopf auf das Lenkrad. Das war knapp! So hatte er sich sein neues Leben nicht vorgestellt.
Sein Herz pochte, stolperte über die eigene Geschwindigkeit. Nie wieder, schwor er sich, würde er noch einmal eine Stadt betreten. Ausgenommen Rom.
Tina hielt den Jungen noch immer fest im Arm. Das Kind mochte vielleicht zwei Jahre alt sein. Seine strohblonden Locken fielen ihm ins Gesicht – ein kleiner Engel, der Hölle Trelleborgs entrissen.
Malow betrachtete die beiden. Tina hielt die Augen geschlossen. Der Junge aber musterte unter ihrem Arm hindurch mit kindlicher Neugier den fremden Mann. Warum weinte es nicht? Vermisste es nicht die Mutter? Das also war der Preis für seinen Verrat an Lena: ei ne junge Frau, fast noch ein Kind, und ein kleiner, hilfloser Junge.
Er stieg aus, ging auf Tinas Seite und begutachtete den Schaden. Der rechte Vorderreifen war praktisch nicht mehr vorhanden und die Felge hatte durch die anschließende Fahrt ohne den Schutz des Reifens stark gelitten. Sie hatte einige Beulen abbekommen und war praktisch Schrott. Aber egal, der Ersatzreifen hatte seine eigene Felge.
Er wechselte das Rad, während Tina mit dem Kind am Strand entlangging und Muscheln auflas.
Als er damit fertig war, rief er Tina und bat sie einzusteigen. Am Strand waren, zwar in sicherer Entfernung, einige Personen aufgetaucht. Sie hielten selbstgebaute Angeln ins Meer. Ein sinnloses Unternehmen, seit vor zwei Tagen eine Handvoll (ehemalige) Soldaten hier mit Dynamit gefischt hatten. Das Meer präsentierte sich an dieser Stelle praktisch fischfrei.
Tina setzte den Jungen auf den Rücksitz. Er kaute an einem Stöckchen und verzog das Gesicht, dann kletterte er wieder nach vorn und auf den Schoß des Mädchens.
»Geht’s dir besser?«, fragte Malow. Tina nickte. Sie hatte sich wieder beruhigt, auch tat ihr das Kind gut. Es lenkte ab, es produzierte aber auch einen Berg neuer Probleme, einfach durch seine Existenz, aber auch im wörtlichen Sinne. Er hatte ein Tuch als Windel getragen, randvoll mit Exkrementen. Tina, die ihn im Meer wusch, besaß selbst nichts, was als Windel hätte dienen können. Also ließ sie ihn nackt.
»Wollen wir es in Malmö probieren? Über die Öresundbrücke?«, fragte Malow. Er wusste selbst nicht, ob er das wollte. Es gab ein gewichtiges Dafür, aber auch ein mindestens so gewichtiges Dagegen. Er wollte dem Mädchen die Entscheidung überlassen.
»Wird es dort so zugehen wie eben?«
»Anzunehmen.«
»Und wie weit ist es?«
»Nicht weit. Je nachdem, wie es unterwegs mit Straßensperren aussieht, könnten wir heute Nacht noch dort sein«, sagte Henning Ma low.
»Nein! Heute bitte nicht mehr. Und bitte nicht in der Nacht!« Allein die Vorstellung, in der Dämmerung oder Dunkelheit durch eine Stadt fahren zu müssen, jagte ihr Angst ein. Sie fröstelte. Das Kind in ihrem Arm weinte. »Der Kleine hat Hunger.«
»Natürlich! Und du doch auch! Wie lang ist es her, dass du mich um etwas zu essen gebeten hast? Entschuldige!« Er griff in seinen Ruck sack und legte nacheinander zwei Äpfel, eine Packung mit sechs eingeschweißten Scheiben Vollkornbrot, ein Stück Käse und eine ziemlich lange Salami aufs Armaturenbrett.
Tinas Augen wurden jedes Mal, wenn Malows Hand mit einer neu en Überraschung aus seinem Zauberrucksack auftauchte, ein Stück größer. Er klappte sein Taschenmesser auf und legte es daneben.
»Butter hab ich leider keine, aber die wäre sowieso geschmolzen.« Er nahm ihr das Kind aus dem Arm und setzte es auf seinen Schoß. Begeistert packte es das Lenkrad. »Komm, Mädchen, greif zu!«
»Darf ich wirklich?«
»Natürlich – oder glaubst du, ich will dir die Sachen nur zeigen? Vom Ansehen wird keiner satt.«
»Und was ist mit Ihnen? Wollen Sie nichts essen?«
»Doch, doch. Aber jetzt iss du erst mal. Ich kann warten.«
»Ich werde nur ganz wenig nehmen.« Tina hielt schon das Messer in der Hand und überlegte,
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