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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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einzusortieren. Richtig, sie hatten ihn hier an das Geländer gefesselt. Und da unten lag die jetzt leere Weinflasche.
    Die Schatten waren inzwischen deutlich länger, das Meer glänzte silbern.
    Wenn er sich wenigstens aufrichten könnte! Nicht nur die Arme schmerzten, sein Rücken und Hinterteil erinnerten ihn an ein Schnitzel, kurz bevor es in die Pfanne geworfen wird. Sofort lief ihm Speichel im Mund zusammen. Er sah sich um. Der Pfosten, an dem sie ihn festgemacht hatten, ein massiver Balken, war zu kräftig, als dass er ihn hätte lockern und sich befreien können. Aber, wenn er das Geländer herausbrechen könnte, würde er sich wenigstens aufrichten können. Er drehte sich nach hinten. Die falsche Bewegung! Er schrie vor Schmerz, die rote Plastikschnur drang tief in seine Handgelenke. Aber jede Bewegung war in diesem Augenblick verkehrt. Aufstehen, nur einmal kurz hinstellen, das war alles, was er wollte. Der kurze Schlaf hatte einen ekelhaften Geschmack in seinem Mund zurückgelassen.
    »Achtung«, sagte er, eine freundliche Warnung an die Möwe. »Ist nicht persönlich gemeint.« Er trat gegen den unteren Teil des Geländers. Drei dünne Streben gab es, die aus dem massiven Balken heraus ragten und quer vor der Veranda verliefen. An ihnen waren senkrecht Bretter befestigt. Wenn er wenigstens die untere Strebe heraustreten könnte!
    Die Möwe erschrak und flatterte auf, als ihr bequemer Rastplatz plötzlich unter Segers Tritt wankte. Sie schimpfte, flog um ihn herum, setzte sich dann aber erneut auf ihren alten Platz und betrachtete den Mann. Ihr Blick hatte beinahe etwas Menschliches. Vorwurfsvoll.
    »Geh doch weg!«
    In seinem Mund spannen sich dünne, zähe Speichelfäden. Seine Kehle war ein vertrockneter Schwamm, der jedes Wort zur Qual machte, vom Schlucken ganz abgesehen. Schluckte er, tanzte der vertrocknete, harte Schwamm auf und nieder.
    Wieder trat er gegen die untere Strebe, es knackte, halluzinierte Erfolg, hielt aber stand. Der Möwe wurde es zu bunt. Sie flatterte zu Segers Wasserflasche – ein sicherer Platz, wenn man es mit einem um sich tretenden Gefesselten zu tun hatte.
    Seine Hände, die er, so weit es nur ging, zur Seite ziehen musste, nahmen schnell eine dunkelrote Farbe an. Es kribbelte in den Fingern. Das Blut staute sich, aber das war ihm in dieser Situation egal. Was sollte er tun? Auf seinem schmerzenden Hinterteil hocken und darauf warten, dass er langsam vertrocknete und sich die Möwe auf seinem Kopf ein Nest baute? Er wollte stehen, bitte, nur einen ganz kleinen Moment.
    Wieder trat er zu. Er schrie auf vor Schmerz, an den Handgelenken platzte die Haut und ein erster Tropfen Blut fiel auf die Stufe. Er hatte sich die Schulter gezerrt, ein Schmerz vom Nacken bis fast zum Ellenbogen, als der Muskelstrang sich verkrampfte. Aber das Geräusch, das durch seinen Schmerzensschrei zu ihm vordrang, ließ ihn alles andere vergessen: die untere Strebe hatte im dritten Anlauf endlich nachgegeben. Sie war sauber vom Balken abgebrochen. Endlich. Ganz langsam erhob er sich. Er konnte stehen! Allerdings nicht mit durchgestreckten Knien, dazu war der neugewonnene Spielraum zu klein. Die mittlere Strebe bremste seine Bewegung. Aber wenn eine Strebe nachgab, warum dann nicht auch die zweite?
    Diesmal benötigte er nur zwei Tritte, bei der obersten Strebe, dem Handlauf des Geländers, fünf. Zuletzt ging es ganz einfach. Es knackte und das Geländer kippte auf die Veranda wie eine losgelassene Buchseite. Er richtete sich auf. Im selben Augenblick hörte er ein Auto nä her kommen!
    Seine Schmerzen waren mit einem Schlag unwichtig. Er vergaß
    Durst und Hunger. Sogar die Möwe, die doch nur auf sein Ende wartete, war augenblicklich unwichtig. Ein Auto!
    Er lauschte auf das erste Motorengeräusch seit Tagen. Die Arbeit der Kolben und Zylinder, das dabei entstehende Geräusch, der Geruch – all das, seit Geburt fester Bestandteil seines Lebens, hatte sich in den Tagen seit dem 23. Mai langsam und unbemerkt aus der Wirklichkeit zurückgezogen. Ohne, dass er es bewusst wahrgenommen hätte, war Ruhe eingekehrt. Wie liebte er jetzt dieses Geräusch. Es versprach einen anderen Menschen, es erzählte von Rettung und, wie sonst soll te es plötzlich wieder Treibstoff geben, es suggerierte Normalität. Hat te das Chaos ein Ende? War das Problem gefunden? Funktionierte der Staat wieder? Die Möglichkeit, dass dieses Geräusch Gefahr bedeuten konnte, kam ihm keine Sekunde in den Sinn. Welche Gefahr konnte

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