Rattentanz
was sie zuerst probieren sollte. Es war ein Wunder, dass sie Henning Malow getroffen hatte. »Und, und Sie wollen wirklich keine Gegenleistung?« In den vergangenen Tagen hatte sie lernen müssen, dass alles einen Preis besaß, jedes Ding und jedes Tun. Weshalb sollte ausgerechnet sie das Glück haben, diese Auslage hier geschenkt zu bekommen?
»Das hatten wir doch hoffentlich ein für alle Mal geklärt. Jetzt iss endlich, wir haben nicht ewig Zeit.«
»Soll ich Ihnen ein Brot machen? Mit Salami? Oder Käse und einen Apfel dazu?«
»Gib lieber dem Kleinen etwas, bevor der das Lenkrad auffrisst. Dann hätten wir nämlich wirklich ein Problem.« Tina lachte und gab dem Jungen einen Apfel. Der riss ihn ihr aus der Hand und biss hinein. Hatte seine Mutter geahnt, dass er als Einziger aus der Straße am Abend etwas zu essen bekommen sollte?
»Wir müssen ihm einen Namen geben«, sagte Tina mit vollem Mund und betrachtete das zufriedene Kind.
»Frag ihn doch. Alt genug, um seinen Namen zu wissen, sollte er wohl sein.«
»Ich habe ihn gefragt, aber er antwortet nicht. Nichts, kein einziges Wort konnte ich aus ihm rausbekommen.« Sie schnitt ein Stück Salami ab und schob es sich in den Mund. »Sie dürfen ihm einen Namen geben. Sie haben uns gerettet. Sie sind jetzt sein Großvater.«
»Jetzt mal langsam.« Malow fuhr dem Kind übers Haar, dann betrachtete er den Strand. Die Sonne stand tief und irgendwo dort hinten lagen Malmö und der Öresund. »Wir werden das Kind nicht behalten können.«
Tina vergaß, weiterzuessen. Sie wollte etwas sagen, hatte aber dazu den Mund viel zu voll.
»Es wird schwer genug, uns durchzubringen, geschweige denn ein fremdes Kind. Wir können doch nicht jedes Wesen, sei es auch noch so süß und hilflos, mitnehmen, dann haben wir bald einen mobilen Kindergarten. Einen Kindergarten, der uns langsam verhungert.«
»Wollen Sie ihn einfach hier am Strand zurücklassen?« Sie spürte Tränen in sich aufsteigen. Am liebsten hätte sie Malow den Jungen vom Schoß gerissen und an sich gedrückt. Sie musste das Kind beschützen, es hatte nichts und niemanden auf der Welt, noch nicht einmal eine eigene Windel.
»Weißt du, wie lange unsere Reise dauern wird, wann wir bei deiner Familie sind? Wo wohnen sie gleich noch?«
»Bei Frankfurt. Frankfurt am Main.«
»Was glaubst du, wie viele Kinder wir unterwegs noch treffen? Was ich in meinem Rucksack habe, wird nicht ewig reichen und auch das Benzin ist irgendwann leer. Zu Fuß vielleicht Hunderte Kilometer durch ein Land, in dem wir uns nicht mehr auskennen. Ich befürchte, in Dänemark und in Deutschland dürfte es genauso zugehen wie hier. Und je größer die Städte, desto schlimmer die Zustände. Und auf unserem Weg liegt nicht nur Malmö. Auf der anderen Seite wartet schon Kopenhagen. Willst du das wirklich mit einem Kleinkind wagen?«
Tina starrte ins Leere. Der Appetit war ihr vergangen und sie gab Malow das Messer zurück. Sie wusste, er hatte recht. Jedes einzelne Wort stimmte. Aber musste sie deshalb seinem Vorschlag zustimmen? Die Schneidezähne des Kleinen hatten schon eine schmale Schneise in den Apfel gefräst. Wenn sie ihn hier am Strand zurückließen, würde er verhungern, so einfach war das.
Malow packte alles in den Rucksack zurück.
»Wir fahren noch ein Stück am Strand entlang und suchen uns irgendwo einen Platz für die Nacht.«
»Aber ihn nehmen wir mit. Bitte.« Ihr Blick flehte ihn an, ein Blick, der selbst einen Massenmörder nachdenklich gemacht hätte. Malow stöhnte. Schließlich nickte er.
»Aber nur diese eine Nacht«, sagte er und wusste, dass dies ein Fehler war. »Morgen bringen wir ihn bis zu den ersten Häusern der Stadt. Schluss!«
Das werden wir morgen sehen, dachte das Mädchen, hielt aber den Mund. Wer weiß, was morgen ist.
Jemand zog an seinen Haaren. Nur ein Traum.
Da, schon wieder.
Hans Seger öffnete die Augen. Wo war er hier?
Alles schmerzte, er musste sich strecken, ein Stück gehen und wach werden.
Er versuchte aufzustehen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Auf das Geländer zurückgekehrt, saß die Möwe nur wenige Zentimeter neben seinem Kopf und musterte ihn. Sie hatte ihm eine Stunde beim Schlafen zugesehen und sich dabei selbst ein wenig ausgeruht. Dann war sie zurück auf das Geländer geflogen und Schritt für Schritt zu ihm gekommen.
Sie betrachtete sein Erwachen, ein ausdrucksloser, gelber Blick. Hans Seger brauchte einige Sekunden, um sich neu in die Wirklich keit
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