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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Nacht!« Eisele zwinkerte dem Älteren zu, dann schloss er die Tür hinter sich. Faust selbst kam nicht weit. Er überquerte die ehemalige Hauptstraße, folgte einem schmalen Trampelpfad bis zur Schule und versteckte sich in einem bunten Holzhäuschen, das den Erst-und Zweitklässlern als Hauptquartier während der großen Pause diente. Dort entkorkte er die Flasche. Er trank – tiefe, durstige Züge – und setzte erst ab, als er die Flasche zur Hälfte geleert hatte. Er betrachtete das Schulgebäude, hinter dessen schwarzen Augenhöhlen die aufgesammelten Gepäckstücke aus dem Airbus lagerten. Jemand wird mit Assauer hierherkommen müssen, überlegte er, damit der seinen Koffer und die Sachen seiner Tochter und des Jungen heraussuchen kann.
    Langsam fühlte er sich besser. Aber der Gedanke an den Moment, an dem er nirgends mehr Alkohol würde auftreiben können, machte ihm Angst. Oder war es nur Einbildung, wenn er unbedingt etwas trinken wollte und so lange an nichts anderes mehr denken konnte, bis er endlich etwas Trinkbares gefunden hatte? Die Frage nach Abhängigkeit hatte sich ihm niemals gestellt, was sind schon zwei oder drei Bier am Abend. Oder sieben oder acht. Und ein paar Schnäpse. Susanne hatte immer dafür gesorgt, dass weder das eine noch das andere jemals ausging, weil sie wusste, dass er es so wollte und sie seinen Zorn fürchtete.
    War er Alkoholiker? Das Wort versetzte ihm eine Gänsehaut und er nahm schnell einen weiteren Schluck. Er war ein freier Mann, konn te tun und lassen, was immer er wollte! Frei? Wie frei, fragte er sich, bin ich eigentlich, wenn ich nur noch an den nächsten Schluck denke? Er hatte Angst vor dem Moment, an dem er seiner Umwelt – vor allem aber sich selbst – eingestehen musste, dass er das Zeug brauchte, in letzter Zeit bereits am späten Vormittag. Seit er wusste, dass Alkohol zur Mangelware wurde, schien ihm seine Gier plötzlich unbezähmbar, als sei das wilde Tier in ihm, welches bisher regelmäßig an jedem Abend ausgiebig gefüttert worden war, allein durch die bloße Vorstellung des Mangels zu voller Größe erwacht. Aber nein, er brauch te es nicht, keinen Tropfen! Er betrachtete im schwachen Sternenlicht den kümmerlichen Rest in der Flasche. Dies hier wird der letzte Tropfen sein. Bestimmt. Alles war nur Einbildung, Angst, jetzt wo Alkohol knapp wurde, ohne ihn nicht leben zu können. Es war Einbildung, ganz sicher sogar. Er war weder Alkoholiker noch sonst irgend was. Er war Frieder Faust – stark, gesund und frei!
    Er leerte den letzten Rest, dann warf er die Flasche neben sich ins Gras. Aber er ging nicht heim, sondern blieb in der engen Hütte hocken. Morgen würde er vielleicht mit Assauer hierherkommen und danach die Sache mit dem Waschplatz regeln. Ohne Alkohol.
    Er sah nach draußen, auf die dunklen Häuser, leere, unbeleuchtete Straßen und einen leblosen Nachthimmel. Nein, er brauchte das Zeug nicht. Eine Träne rollte ihm über die Wange und blieb an grauen Bartstoppeln hängen. Er wischte sie weg, zwängte sich aus dem Versteck und begann auf allen vieren im Gras nach der leeren Weinflasche zu suchen. Als er sie gefunden hatte, setzte er an und hielt sie lange hoch über seinem Mund.
    Der letzte Tropfen, wirklich der letzte.
    Zur selben Zeit saß Eva Seger an Joachim Becks Krankenlager. Thomas verschmähte das ihm zugewiesene Zimmer. Er lag vor Becks Bett und versuchte zu schlafen. Aber er konnte nicht, denn der Tod war ganz nah. Thomas spürte, dass Gevatter Tod nicht zu ihm wollte. Noch nicht. Der Polizist stand vor ihm in der Reihe. Die korrekte Reihenfolge war wichtig. Immer eins nach dem anderen, zuerst das linke Bein, anschließend das rechte, so hatte er es gelernt.
    Fräulein Guhl war ihnen entgegengerannt, weil sie den Puls des Pa tienten nicht mehr fühlen konnte und glaubte, er wäre tot. Eva aber hatte schnell gemerkt, dass es noch nicht so weit war. Noch.
    Becks Atem wurde zunehmend flacher und sein Herzschlag war kaum noch spürbar. Beck hatte den Kampf verloren, wie Eva Thomas erklärte, und wahrscheinlich würde er diese Nacht nicht überleben.
    Aber Thomas hatte andere Gedanken. Morgen sollte er zu des Teufels Großmutter kommen. Morgen gab es wieder Melissentee! Dieses Dorf war ein guter Platz.
    Voll Dankbarkeit schlief er ein.

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    23:22 Uhr, Wellendingen
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    Martin Kiefer hatte wenig Erfahrung mit Geisteskrankheiten und deren Besitzern. Eigentlich gar keine, um ehrlich zu sein. Aber dass dieser Thomas nicht von dieser

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