Rattentanz
aufgefallenen Atempausen länger wurden. Schließlich vergaß Beck das Atmen ganz. Wozu auch. Da, wo er jetzt hinwollte, musste er weder ein-noch ausatmen. Ein letztes Mal strömte ein we nig verbrauchte Luft aus seiner Lunge. Eva hielt selbst den Atem an und wartete auf Becks fehlenden Atemzug – zehn Sekunden, zwanzig, eine Minute, zwei und drei. Dann endete auch das unregelmäßige Schla gen seines Herzens.
Eva beugte sich zu seiner Hand und küsste sie. Es war vollbracht, er hatte es geschafft.
»Danke, dass du da warst in den letzten Tagen«, flüsterte sie. Sie betrachtete seine gebrochene Nase und das grünblau verfärbte Auge. Die Schwellung hatte sich zurückgebildet und er hätte mit diesem Auge in ein oder zwei Tagen vielleicht wieder richtig sehen können. »Ohne dich hätten wir es nie bis hierher geschafft. Wahrscheinlich wä re Thomas im Aufzug verdurstet und ich den Kerlen im Krankenhaus zum Opfer gefallen.« Sie strich ihm ein paar Haare aus der Stirn und fuhr mit den Fingerspitzen vorsichtig über Becks halb geöffnetes Lid. Sie schloss es, wie sie schon so oft Verstorbenen die Augen geschlossen hatte: im Dienst auf der Intensivstation und zuletzt bei Alek sandr und Olga Glück.
Beck war ein Fremder geblieben, trotz ihres gemeinsamen Weges. Das Schicksal oder Gott oder wer auch immer hatte sie willkürlich zusammengeführt, sie hatten sich gegenseitig das Leben gerettet und gemeinsam Thomas. Eva hatte kaum etwas über den Polizisten erfahren und auch wenig von sich selbst preisgegeben – ein kleines Stück gemeinsamen Weges, nun trennten sich ihre Pfade und jeder musste allein weiterziehen.
Sie fühlte sich müde. Sie drehte Joachim Beck auf den Rücken, wusch ihm ein letztes Mal das Gesicht, entfernte den kalten Schweiß des Todes und einen letzten Blutstropfen an Becks Nase. Dann glättete sie die Bettdecke und faltete seine Hände. Sie wusste nicht, ob er an ei nen Gott geglaubt hatte, an ein Leben nach dem Tod. Aber sie wusste, dass Joachim Beck in einer hoffentlich besseren Welt angekommen war, dass er geschafft hatte, was ihr selbst noch bevorstand. Fast war sie versucht, ihn um diesen Vorsprung zu beneiden, denn seine Sorgen hatten in diesem Augenblick ein Ende. Sie berührte ihren Bauch und dachte an Hans.
Dann öffnete Eva das Fenster.
Christoph Eisele fand Faust nach dem Gottesdienst in einer Menschentraube. Man wollte etwas über die gestrige Ratssitzung erfahren.
Die Menschen hatten fast alle die Kirche verlassen, blieben aber noch unter den beiden uralten Kastanien stehen, die den Haupteingang säumten. Es war, wie es früher einmal gewesen sein musste, als sich Sonntag für Sonntag das ganze Dorf zum Gottesdienst traf und man, noch nicht von einer permanenten Informationsflut aus Radio und Fernsehen übersättigt, Nachrichten austauschte, Bekannte traf oder Geschäfte anbahnte. Heute zog es die Menschen zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht sofort wieder heim. Heute blieben sie stehen, genossen die wärmende Sonne und die Gespräche. Es war eine kleine Wohltat. Sie brauchten Kraft, dessen war sich jeder Einzelne bewusst, und sie brauchten die Kraft der anderen.
Während des Gottesdienstes hatte sich Bubi vorgenommen, mit sei nem Vater zu sprechen. Er wollte ihm alles beichten: die Sache mit Georg Sattler, den sie am ehemaligen Golfplatz im Wald abgelegt hatten, von Kiefers Einbruch im Gasthaus Krone und von den zwanzigtausend Euro. Und von Kiefers Plänen Eva gegenüber. Als Bubi aber seinen Vater sah, wusste er mit einem Mal, dass dies der falsche Weg wäre. Die Wahrheit war in diesem Fall nicht von Nutzen. Die Wahrheit würde ihn auf unabsehbare Zeit an dieses Dorf fesseln und seine Träume wären dann nicht einmal die Zeit wert, die er zum Träumen brauchte.
Faust stand im Mittelpunkt der Menschenmenge, selbst Basler wirk te eher blass. Nein, dachte Bubi, was geht mich Eva an, was Kiefers Pläne mit dieser Frau? Nichts. Er schüttelte den Kopf und ging nach Hause.
»Na, meine Kleine, bist du froh, dass deine Mama wieder da ist?« Hildegund Teufel hatte sich zu Lea hinabgebeugt und strich ihr eine Locke aus der Stirn. Aber Lea schien die Alte gar nicht wahrzunehmen, sie hatte nur Augen für Thomas.
Sie hat den Engel berührt, stöhnte es in diesem.
Als Frieder Faust sich endlich von den neugierigen Fragern befreit hatte, setzte er sich auf eine der Holzbänke vor der Kirche. Eisele ging zu ihm und setzte sich ebenfalls.
»Hat sich Susanne
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